Familie und binationale Ehe
    Inhalt:
    Deutsch-ägyptische Ehen – Auswertung von Gesprächen
    Deutschsprachige Frauen in Kairo erzählen
    Damals war's: Ich heiratete einen Ägypter
    Kurze Meinungsäußerungen von Kindern aus binationalen Ehen
    Buchbesprechung: Betty Mahmoudy – "Nicht ohne meine Tochter"
    "Deine Landsmännin versteht dich" – aus "Al Akhbar"
    "Sie" (Heyya) – nach einem "Al-Ahram"-Artikel
    Individuelle Sicherung durch Versicherung
    Geschichte einer Ehe
    Persönliche Betrachtungen über das Wesen Ehe und binationale Ehen
    Beate trifft Mahmud, Anne ist unzufrieden mit Ahmed, Eva und Ali...
    Religionsverschiedene Ehen

Zum PapyrusArchiv

Punkt Punkt Punkt

   

Geschichte einer Ehe
von Baraka Maatwk
in 4 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 1—2/2000, pp. 48—51

Deutschland im Sommer 1994. Die Hochzeitsvorbereitungen meiner Schwester liefen auf vollen Touren. Ganz romantisch sollte die Hochzeit in einem Schloss im Münsterland stattfinden.

Eines Abends kam sein Anruf. Später erfuhr ich, dass es nur unter Druck eines gemeinsamen Freundes geschah, der es mir ansonsten erzählt hätte.
Mein Mann hatte geheiratet. Eine zweite Frau. Ich war die erste.

Noch heute kann ich mich gut an diesen Moment erinnern. Einen ganzen Augenblick lang – und diese Augenblicke können sehr lang sein – dachte ich tatsächlich, die Welt würde stehen bleiben. Es war so unwirklich. Das kann doch nicht wahr sein, das passiert doch nicht mir. Hatte ich nicht alles getan, um das zu verhindern?

Und es passierte doch, es passiert immer wieder und immer noch. Und man kann nicht ALLES tun, um es zu verhindern. Und es kann jede treffen.

Hier in Ägypten in Form einer Zweitfrau, in Deutschland in Form einer Geliebten. Prinzipiell ist es das gleiche Thema. Der Unterschied liegt im Rechtsstatus. Hier hat eine Zweitfrau auf allen Ebenen die gleichen Rechte wie die Erste.

Ich habe damals die Nächte im Schockzustand verbracht und tagsüber meine Rolle als Brautschwester gespielt. Es galt eine Entscheidung zu fällen. Zurückgehen oder in Deutschland bleiben? Was würde in Deutschland sein? Ich hatte vier Kinder. 9, 7 und 2 Jahre alt und ein Baby von 10 Monaten. Wer würde sich um die Kinder kümmern, wenn ich ganztags arbeiten würde? Meinen Eltern diese Belastung zuzumuten war unmöglich. Ein Hort? Oder Sozialhilfe beziehen?

Was würde mich in Ägypten erwarten? Ein geteilter Mann? Bitte kämpf um mich, hatte er gesagt. Und er wüsste, er hätte einen Fehler gemacht, aber ich hätte ihm ja auch nicht mehr gezeigt, dass ich ihn noch lieben würde. Ich wäre immer so stark und unabhängig, ich bräuchte ihn ja gar nicht. Logik eines Mannes zur Rechtfertigung einer Zweitfrau? Hilferuf in einer Midlife-Krise? Gut aussehender Mann, Mischung zwischen Robert Redford und Paul Newman, umschwärmt, sobald er den Raum betrat. Typ sympathischer Nachbar von nebenan, immer gut gelaunt, hilfsbereit, vorbildlicher Vater, verständnisvoll, guter Diskussionspartner, gebildet, immerhin Doktortitel aus Deutschland, und last but not least: guter Liebhaber. Allerdings: schwacher Charakter und keine Hemmungen vor Lügen. Doch lässt sich mit so einer Plus-Minus-Liste der Alltag einer Ehe zu Dritt bewältigen?

Manche Entscheidungen sind schwer erklärbar. So viele Punkte spielen eine Rolle. Welcher der entscheidende Punkt war oder der ausschlaggebende, lässt sich nur subjektiv nachempfinden.

Für mich war es eine gefühlsmäßige Entscheidung. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschland bleiben können. Trotz allem hing ich an ihm, wollte versuchen zu retten, was vielleicht zu retten ist, wollte kämpfen, wollte schwach sein, für ihn, wollte probieren wie das ist: eine Ehe zu Dritt. Wenn ich schon reingerutscht bin, wollte ich es zumindest mal ausprobieren. So viele psychologische Bücher hatte ich schon verschlungen, jetzt sollte ich die Praxis serviert bekommen, auf dem Silbertablett sozusagen. Bei Gefahr, dass sich mein Märchenprinz in einen Frosch zurückverwandelt, hätte ich ja immer noch gehen können. Vielleicht, so dachte ich, hilft es ihm ja, wenn er nun in der stärkeren Position ist. Vielleicht haut er dann mal mit der Faust auf den Tisch und sagt, was er wirklich will und lässt nicht alles so in der Schwebe.

Außerdem wollte ich meine eigenen Grenzen kennen lernen (dazu sollte ich genug Gelegenheit bekommen). Vorher war eine latente Eifersucht vorhanden gewesen, die, von ihm geschürt, des Öfteren hell loderte. Nun könnte ich ja erkennen, was mein eigener Anteil daran war und was nicht.

So dachte ich, wenn ich nachts auf der Couch im Wohnzimmer lag und immer noch hoffte aus dem Alptraum aufzuwachen.

Ich kehrte also zurück, hatte meinen Eltern nichts gesagt. Wie auch bei der Hochzeit ihrer anderen Tochter? Außerdem musste ich erst mal selbst ausprobieren, was sein würde. Nur meine Schwester wusste Bescheid, und so gespalten unser Verhältnis auch vorher war, in dieser Zeit hat sie mich schwesterlich begleitet.

Jedoch hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zu einer Ehe zu Dritt gehört nämlich auch noch die dritte Partei. Mit all ihren Ansprüchen, Wünschen, Vorstellungen und Grenzen. Ein ganzer Mensch ist das.

Ich kam in Kairo auf dem Flughafen an mit vier Kindern, 120 kg Gepäck und mitten in der Nacht. Ich wollte nicht abgeholt werden von ihm. Dieses Gefühl des Ankommens wollte ich allein empfinden, wollte erst mal ein paar Tage allein sein, wollte fühlen, wie es sich lebt mit der Wunde in mir drin. Wie es ist, morgens aufzuwachen, aus dem Fenster zu schauen, die heiße ägyptische Sonne zu spüren, eine andere Sprache zu hören, Menschen, mit anderer Hautfarbe, anderer Gestik zu sehen, Geschrei, Gehupe, Staub und Dreck um mich zu haben. Fremdsein spüren. In dem Land, in dem ich vorhatte, mich auf diese Erfahrung einzulassen. Kann ich es aushalten, das Land, oder werde ich anfangen es zu hassen?

Das erste Wiedersehen war sehr emotional. Etwa zwischen Erdbeben und Vulkanausbruch. Es wurde nicht viel gesprochen. Wir waren gar nicht fähig dazu. Ausgetragen haben wir es körperlich, eines der schönsten Erlebnisse. Darauf war ich gar nicht vorbereitet gewesen. War noch so viel Gefühl übrig? Vielleicht kann man es auch einfach überstehen, indem man wegsieht. Soll er doch machen, was er will, an den anderen Tagen, und ich tue einfach so, als ob das alles nicht existiert. Oder will man sich einfach beweisen, dass man durchaus noch körperliche Macht über den anderen hat oder dass man besser ist als die andere?

Es dauerte ein, zwei Wochen, bis ich klarer denken konnte und auch meine Gefühle etwas unter Kontrolle hatte. Das Erdbeben war abgeflacht. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das nur eine kleine Kostprobe an Gefühlswallungen war und erst noch richtig losgehen sollte.

Ich fand einen klaren Standpunkt für mich. Für ein Jahr wollte ich es probieren, dann oder bis dahin sollte es zu einer Entscheidung kommen. Entweder ich oder sie. Ich hatte meine Bedingungen, und er hatte nicht viel Wahl diese abzulehnen. Fünf Bedingungen, die für mich notwendig waren, um in dieser Situation leben zu können und um zu sehen, ob er sich wirklich entwickelt und ich Vertrauen wieder aufbauen kann.

Erstens keine Lügen mehr, alle Karten ehrlich auf den Tisch; zweitens kein Kind von ihr bis es zu einer Entscheidung gekommen ist; drittens sie soll in Kairo bleiben, ich wollte sie nicht irgendwo in Ismailia auf der Straße oder bei Verwandten treffen; viertens keine Anrufe ihrerseits, wenn er bei mir ist; und fünftens sollte er die vier Tage, die er für die Arbeit benötigte, zwar in Kairo bleiben, aber am vierten Tag abends nach Ismailia kommen. Dies wurde ein großer Streitpunkt, denn es bedeutete, dass er vier Nächte die Woche bei mir ist. Damit war sie natürlich gar nicht einverstanden. Ich jedoch fand, dass ich Vorrecht hätte als Erstfrau. Sie hatte ihn immerhin allein in Kairo, während ich ihn mit Kindern und auch Arbeit in Ismailia teilen musste. Er wurde zum Ping-Pong-Ball, was teilweise seiner Eitelkeit wohl gefiel. Ein deutscher Bekannter, der zu Besuch kam, wurde direkt neidisch. Toll, zwei Frauen kämpfen um einen Mann, meinte er.

Fast alle Abmachungen wurden innerhalb von nur zwei Wochen gebrochen. Das sah so aus, dass sie ständig anrief und ihn stundenlang am Telefon festhielt. Sie kam nach Ismailia und quartierte sich bei seiner Schwester ein, bestellte ihn mitten in der Nacht, weil sie Bauchschmerzen hatte. Und er log, um mir das zu verheimlichen. Er kam am vierten Tag abends, aber spät in der Nacht. Anfangs habe ich es nicht so recht durchschaut. Aber dann musste ich einsehen, dass er derjenige ist, der sich am Telefon festhalten ließ, dass er auf die Bauchschmerzen einging.

Auch seine Lügen flogen irgendwann auf. Dann folgte eine Zeit der Entschuldigungsserien. Nach dem Motto 'Alles braucht seine Zeit', 'Veränderungen sind ja so schwer', 'Es gibt immer wieder Rückfälle'. Gemischt war diese Zeit mit vielen Selbstzweifeln. War es richtig, Bedingungen zu stellen? Hätte ich einfach mal loslassen, ihn führen lassen sollen? Bin ich nicht vielleicht doch zu schwierig, zu anspruchsvoll? Wer will nicht einfach öfter mal verwöhnt werden und dem Kindergeschrei entfliehen? Wo ist mein Anteil, was könnte ich anders machen?

Ich fing an mich im Kreis zu drehen. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass die andere dermaßen versuchen würde, mich mürbe zu machen. Es wurden Lügen über mich erfunden, angeblich wurde ich mit einem anderen Mann gesehen, angeblich würde ich ständig ihre Eltern anrufen, um mich zu beschweren. Wie kann man das Gegenteil beweisen? Ich sah den Zweifel in seinen Augen. Dann wurde sie auch noch zuckerkrank, fiel ständig in Ohnmacht und war immer beinahe am Sterben. Sie lebt heute noch, die Zuckerkrankheit scheint überstanden. Aber er begann mürbe zu werden.

Dann fing er an, über Scheidung zu reden, von ihr. Seinen Fehler hatte er ja von Anfang an zugegeben. Nun wollte er da raus, er hätte sich entschieden. Merkwürdigerweise stellte sich bei mir kein Glücksgefühl ein. Hätte ich nicht jubeln müssen? Irgend etwas stimmte nicht. Ich sollte Recht behalten.

Statt sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, gab es jede Woche andere Ausreden. Eines Nachts wachte ich auf und mir war schlagartig bewusst, warum es wahrscheinlich so herausgezögert wird. Sie war schwanger. In dieser Nacht haben wir uns geschlagen, bis wir uns weinend in den Armen lagen. Für mich war klar, dies ist das Ende unserer Ehe. Es gab keinen anderen Ausweg. Nie würde es aufhören, wenn erst mal ein Kind da war. Sie würde es ohne Hemmungen ausnutzen. Er sprach immer noch davon, sich von ihr scheiden zu lassen, aber vielleicht doch etwas später? Es würde doch gar nicht nett aussehen für sie (und für ihn?).

Ich packte die Koffer, seine Koffer. Er wusste, ich hatte meine Grenze erreicht, und ging.
Ich fühlte eigentlich gar nichts mehr. Ich war durch die Hölle gegangen. Es konnte nicht schlimmer kommen.

Zu dieser Zeit ging ich das erste Mal zu einem Anwalt, um mich zu informieren. Nur die Informationen haben mich 200 L.E. gekostet. Für mich ein Vermögen damals. Dieser Gang war für mich eine kalte Dusche. Natürlich hatte ich vorher viele Horrorstories gehört und viel Gerede, was nun Gesetz wäre und was nicht. Doch viele Dinge waren so widersprüchlich. Beim Anwalt ging es ganz klar zur Sache, und plötzlich fand ich mich in einer Realität, die mir gar keine Zeit ließ, um irgendwelche psychologischen Versuche anzustellen.

Die Rechtslage ist ein entscheidender Faktor. Bei einer Zweitfrau muss die Scheidungsklage nämlich innerhalb eines Jahres eingereicht sein, danach ist es zwar nicht unmöglich, wird aber schwieriger. Die Jahresfrist war zwar für mich noch nicht abgelaufen, aber langsam musste ich mich entscheiden. Es war, obwohl mein Mann ja schon weg war, und ich ihn nicht mehr um mich hatte, eine quälende Zeit. War ich wirklich entschlossen, diesen Schritt zu wagen? Und wieder die Frage des Wohin!

Zurück nach Deutschland oder in Ägypten bleiben? Zum Glück hatte ich damals schon angefangen zu arbeiten, aber es war nicht viel, und ich hatte Angst, Angst, ganz allein mit der Verantwortung für vier Kinder fertig werden zu müssen. Trotzdem entschloss ich mich zur Scheidung. Heute frage ich mich oft, ob ich anders gehandelt hätte, wäre mir klar gewesen, was noch alles auf mich zukommt. Denn es folgten schwierige gerichtliche Auseinandersetzungen. Ich hatte viel zu lernen.

Also, was zuerst tun? War ich wirklich entschieden einen solchen Schritt zu wagen? Und wieder die Frage des Wohin? In Ägypten bleiben oder nach Deutschland zurück?

Das Schlimmste in dieser Zeit war, dass es anscheinend keinen Raum der freien Entfaltung für mich gab. Es gab zwar eine Menge Freunde mit guten Ratschlägen, deutsche wie ägyptische. Was ich jedoch eigentlich gebraucht hätte, wäre ein Austausch mit Gleichbetroffenen gewesen. Sicherlich ist es schon vielen vorher passiert. Sicherlich hat jede ihre eigenen Entscheidungen getroffen. Es wäre gut gewesen sich auszutauschen. Diese Geschichte ist ein ehrlicher, subjektiver Bericht, aus meiner Sicht dargestellt.

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt  Punkt

 

 

Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 3—4/2000, pp. 29—33

Es gab noch viel Hin und Her. Sherif, mein Mann, kam zurück. Neue Versprechungen, neue alte Lügen. Meine Grenze war bei weitem überschritten. Schon morgens um 7 Uhr lag ich weinend im Bett und wusste nicht, wie ich den Tag überstehen sollte. Bedrängt von beiden Seiten willigte mein Mann nach weiteren vier Monaten ein, sich von mir scheiden zu lassen. Immerhin hatte ich es fast zehn Monate in einer Ehe zu Dritt ausgehalten. Welch eine Leistung! Ich war kuriert. Der emotionale Stress hatte tiefe Wunden geschlagen. Die Kinder wussten lange nicht, was los war. Dies war sicherlich die schlimmste Zeit für sie, denn sie sahen viel Streit. Sie erlebten ihre Mutter in ständiger Anspannung, mit viel Geschimpfe und wenigen guten Worten, geschweige denn Zärtlichkeiten. So unendlich erschöpft konnte ich weder Mutter noch Mensch sein.

Die Scheidung wollte ich, hatte jedoch Angst vor den Gerichtsverfahren. Der Anwalt hatte mich deutlich gewarnt, dass es eine lange und kostspielige Prozedur sein würde und nicht mit der Scheidung beendet wäre, falls Kinder und Eigentum vorhanden seien. Eine außergerichtliche Einigung wäre besser. So war ich ganz froh, dass Sherif in die Scheidung einwilligte. Im Juni endlich nahm er sie in meiner Abwesenheit vor.

Scheidung in Abwesenheit bedeutet, dass der Mann das Recht hat, die Frau innerhalb von 60 Tagen zurückzunehmen, ohne dass ein neuer Ehevertrag nötig ist. Ist die Frau nicht einverstanden, muss sie vor Gericht gehen. Bei Scheidung in Anwesenheit kann der Mann die Frau nicht zurücknehmen ohne einen neu ausgehandelten Ehevertrag. (Fazit: es ist wichtiger bei der Scheidung dabei zu sein, als bei der Hochzeit.)
Der Mann hat das Recht, die Scheidung ohne Angabe von Gründen auszusprechen. Rechtskräftig wird diese "Verstoßung" durch ein Schriftdokument, aufgesetzt bei einem zuständigen Beamten und vor Zeugen. Die Frau dagegen braucht Gründe für die Scheidung (aufgeführt weiter unten), die außerdem vor Gericht verhandelt werden. Oder sie kann im Ehevertrag festhalten, dass sie ebenfalls scheidungsermächtigt ist. So können Mann und Frau gleichzeitig zur Scheidung berechtigt sein, oder auch nur die Frau. (Dies wird zur Zeit in Ägypten vorwiegend von Schauspielerinnen praktiziert und ist in der Gesellschaft nicht sehr anerkannt, gilt sozusagen als "verrucht".)

Nach der Scheidung ging es erst einmal aufwärts. Der Sommer brannte heiß und unerbittlich auf uns nieder. Es war August geworden. Freiheit fühlte sich so unendlich gut an! Dabei ließ sich die Trauer um eine zerbrochene Ehe gut verdrängen. Eine gehörige Portion Selbstbetrug trug das ihre dazu bei. Außerdem kam er ja seine Kinder besuchen und man konnte deutlich sehen, dass der Honeymoon für ihn zu Ende war. Noha, Sherifs Zweitfrau, die ja nun auf Platz Eins hochgerutscht war, hatte inzwischen ein Mädchen entbunden. Als Ironie des Schicksals ausgerechnet an dem gleichen Tag, an dem mein drittgeborener Sohn ebenfalls Geburtstag hatte. War es wirklich Schicksal oder hatte sie etwas nachgeholfen mit dem Kaiserschnitt? Ich war so verletzt, dass ich das tatsächlich überlegt habe. Auch schon während unserer Ehe zu dritt war die Vorstellung, dass dort irgendwo in Kairo eine Frau (auch wenn es "seine" ist) rumläuft, die das Kind meines Mannes austrägt, so ungeheuerlich, dass mir jedes Mal schlecht wurde, wenn ich eine Schwangere sah. Irgendwann ließ das zum Glück nach, aber die Geburt der Tochter, das Überleben Nohas, trotz mehrfacher Versicherung, doch gewiss bei der Geburt zu sterben, ließ die Angelegenheit zu einer unendlichen Geschichte werden. Es gab absolut kein Zurück. Und doch!

58 Tage nach der Scheidung, genau in der Zeit, in der er noch das Recht hatte, sie rückgängig zu machen, kam Sherif zurück. Erfreut präsentierte er mir Nohas Scheidungspapier und meine Rücknahme. Er hatte wahrscheinlich wirklich gedacht, ich würde ihm um den Hals fallen. Dazu gab es jedoch keine Gelegenheit. Kaum war er da, klingelte schon das Telefon für ihn, und Nohas Vater ließ Schimpftiraden und Flüche durchs Telefon schallen. Na bravo, genauso hatte ich es mir vorgestellt. Auch diese letzte Aktion machte nur noch deutlicher, dass es nichts mehr zu retten gab. Auf meine Frage, was er denn mit seiner Tochter vorhätte, antwortete Sherif, dass ihm dieses Kind völlig egal sei. Er wäre da von Noha reingelegt worden. Angeblich hätte sie ja die Pille genommen. Ich war mir sicher, dass er log. Er war immer ein guter Vater gewesen, doch wollte er mal wieder den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Typisch ägyptisch oder typisch männlich, auf jeden Fall typisch Sherif. Wieder wies ich ihm die Tür.

Viel später erst erfuhr ich, dass Sherif noch am gleichen Tag mit seiner Schwester und ihrem Mann, einem Rechtsanwalt, zurück nach Kairo fuhr, um die Angelegenheit zu regeln. Noha, ganz geschickt, hatte sich bei der Hochzeit einen Scheck über 20.000 L.E. als Morgengabe geben lassen. Dies ist eine beliebte Absicherung für Zweitfrauen. Auf ungedeckten Scheck, wie in Sherifs Fall, steht Gefängnis in Ägypten. Manchmal lassen sich Zweitfrauen Blankoschecks geben, oder aber die Summe wird so hoch angesetzt, dass die Zahlung dem Mann in jedem Fall Leid tun würde. Sherifs Schwager und Anwalt brauchte ihm die Konsequenzen wahrscheinlich nicht lange zu erklären. Der Schöne und das Biest wurden wieder ein Paar, noch am gleichen Tag.

Durch den Rücknahmeschein meiner Scheidung erfuhr ich, dass ich schon zum zweiten Mal geschieden war. Welch eine Überraschung! Wie das? Um unverheiratet heiraten zu können, hatte er mich kurzerhand scheiden lassen und dann nach einer Woche einfach wieder zurückgenommen. Ich war überrascht, entsetzt, wütend, alles gleichzeitig. Was für ein gemeiner Schuft. So einfach ist das also?
Nein, ist es nicht. Es gehört eine Menge Betrug dazu.

Bei Eheschließung muss angegeben werden, ob man schon verheiratet ist oder nicht. Ist der Mann verheiratet, wird die erste Frau durch den Mahsun (Art Standesbeamter) per Einschreiben unterrichtet. Bei Nichtbeachtung macht sich der Mahsun strafbar und kann seine Lizenz verlieren.

Hier lässt sich leider viel mit Geld 'regeln'.

Gibt ein verheirateter Mann an, unverheiratet zu sein, begeht er Urkundenfälschung.

Dies kann ein mögliches Druckmittel sein, falls derjenige im öffentlichen Dienst arbeitet. Meiner, nicht nur schön, sondern auch schlau, regelte es ganz gerissen. Er gab eine falsche Adresse an! So konnte mich eine Nachricht gar nicht erreichen.

Falsche Adressenangabe kann vor Gericht als Beweismittel für den zweifelhaften Charakter des Mannes angeführt werden. Oder es kann benutzt werden, um die Jahresfrist hinauszuzögern. Die erste Frau, die ja keine Nachricht erhalten hat, gibt beim Einreichen der Scheidung an, erst jetzt von der zweiten Heirat erfahren zu haben.

Über eines musste ich mir nun im Klaren sein. Dies würde unsere dritte Scheidung werden.

Der Mann kann sich dreimal von der Frau scheiden lassen. Die ersten beiden Male hat er das Recht, sie innerhalb einer festgesetzten Frist wieder zurückzunehmen, darum werden sie widerrufliche Scheidung genannt. Ist die Frau damit nicht einverstanden, muss sie vor Gericht klagen.
Nach islamischem Recht, welches auch vor Gericht angewendet wird, ist das die endgültige, darum unwiderrufliche Scheidung. Danach können die Partner nur wieder zusammenkommen, wenn die Frau zwischendurch mit einem anderen Mann verheiratet war. Dies dient zum Schutz der Frau, dass der Mann sich nicht einfach nach Lust und Laune von ihr scheiden lassen kann.

Nun gibt es zwar auch hier wieder Tricks, wie z.B., dass die Frau eine Ehe zum Schein eingeht und sofort wieder geschieden wird. Ein beliebtes Thema für Filme in den Genres Komödie bis Krimi. Für mich war allerdings klar, dass es sich um eine sehr endgültige Form der Endgültigkeit handeln sollte. Unwiderruflich!

Nun galt es, einen Englisch sprechenden Anwalt in Ismailia zu finden. Mein Englisch war nicht auf gerichtliche Auseinandersetzungen vorbereitet, ganz zu schweigen von meinen arabischen Sprachkenntnissen. Genauso wenig war mein Finanzbudget auf einen Englisch sprechenden Anwalt vorbereitet.

Der erste Anwalt, den ich fand, war nur deshalb gut, weil er mich gleich bei erster Gelegenheit im Stich ließ und ich dadurch einen viel besseren Anwalt fand. Doch davon später. Zunächst reichte dieser erste Anwalt mein Scheidungsersuchen bei Gericht ein. Wir begründeten meinen Scheidungswunsch damit, dass er eine zweite Frau geheiratet hatte, ohne mich zu informieren und ich damit nicht leben könnte. Außerdem wäre er schon längere Zeit abwesend und würde keinen Unterhalt bezahlen.

Scheidungsanträge können begründet werden mit Argumenten wie Zweitheirat ohne Zustimmung mit wirtschaftlichem und moralischem Schaden; unbegründete längere Abwesenheit; ausbleibende Unterhaltszahlung; schwere Krankheit des Mannes; rechtskräftige Verurteilung des Mannes zu längerer Haftstrafe und Verfehlungen des Mannes gegen die Frau. Die vom Gericht ausgesprochene Scheidung gilt als unwiderruflich, außer bei der ausbleibenden Unterhaltszahlung während der Ehe. In diesem Fall ist es dem Mann möglich, die Frau zurückzunehmen, wenn er seine Zahlungsfähigkeit nachweisen kann.

Es kann bis zu einem Monat dauern, bis es zu einem ersten Anhörungstermin kommt, da die Gegenpartei nachweislich informiert werden muss. Beim ersten Termin findet meistens nicht viel statt, denn die Gegenpartei wird um Akteneinsicht bitten, womit es zu einer Verzögerung kommt. Und so geht es weiter und weiter mit Verzögerungstaktiken. Ein Kinderspiel für jeden Rechtsanwalt. Ägyptische Frauen müssen mit jahrelangen Prozessen rechnen. Die Kosten hat hier, anders als in Deutschland, jeder selbst zu tragen.

Mein Scheidungsbegehren löste eine Lawine an Ereignissen aus, auf die ich in keinster Weise vorbereitet war, und die mich darum total überrollte. Die Warnung des Anwaltes hatte ich eher auf "schmutziges Wäschewaschen" vor Gericht bezogen, doch niemals auf das, was dann kam.

Die Kinder hatten sich gerade etwas beruhigt, denn die Entscheidung war gefallen, und sie sahen, dass ich mich auf die Situation einzurichten begann. Wir würden zusammenleben, der Papa käme sie abholen, entweder für einen Nachmittag oder für ein Wochenende. Sie litten natürlich noch und waren verängstigt, aber ich hoffte, es würde sich mit der Zeit legen. Darum wollte ich die Kinder aus den Gerichtsstreitigkeiten heraushalten. Dies ist Wunschdenken, weltweit zu 80% zum Scheitern verdammt. Hier in Ägypten ist es fast unmöglich. Das wusste ich damals jedoch nicht und ging davon aus, dass "wir" das ja besser machen könnten. Anfangs klappte es ganz gut. Sogar die großen Kinder aus meiner ersten Ehe gingen zum Wochenendbesuch mit, ausdrücklich auf Sherifs Wunsch hin. Zu dem Zeitpunkt hinterfragte ich nicht, was wohl Noha dazu meint. Sollte sie doch zusehen, wie sie damit fertig wird. Warum hatte sie auch einen verheirateten Mann mit Kindern geheiratet? Bis jetzt hatte ich ihr ein leichtes Spiel gemacht, da ich die Scheidung gewollt hatte. Die Ratschläge, die ich von ägyptischen Freundinnen bekam, um meinen Mann zurückzuergattem, waren raffiniert ausgeklügelte psychologische Manipulationstechniken. Leider wollte ich meinen Mann, so schön er nun auch war, nicht um jeden Preis. Ich wollte morgens aufwachen mit einem Partner, der freiwillig an meiner Seite ist, nicht aber mit einer Marionette. Noha muss mich für sehr dumm gehalten haben. Sie hat sehr viel praktischer gedacht und auch keinen "falschen Stolz" an den Tag gelegt. Immerhin ging es um einen Ernährer, eine Altersversorgung und einen zukünftigen Professor an der Universität. Dafür lohnte es sich, ihr Können im Management anzubringen, selbst wenn es sich um den eigenen Ehemann handelt. Später habe ich ihr ärmliches Elternhaus kennen gelernt und da erst begriffen, was diese Ehe für sie bedeutet haben muss. Sie hatte nicht viele Chancen von dort wegzukommen. Immerhin war sie ja keine junge Studentin mehr gewesen, sondern fast 30 Jahre alt und außerdem mehrmals durch die Prüfungen gefallen. Nur vor diesem Hintergrund kann ich mir einiges erklären, aber mir persönlich reicht das nicht als Entschuldigung, denn viele andere Ägypterinnen, die ich kenne, sind in ähnlich schwierigen Situationen und handeln doch moralisch und menschlich fairer.

Kurz bevor es zur ersten Verhandlung kam, eskalierten die Zustände. Mein Vater kam im November zu Besuch. Bis zu diesem Zeitpunkt wussten meine Eltern (noch) nichts von meiner Situation. Meine Schwester hielt engen telefonischen Kontakt, was mir sehr geholfen hat. Vor meinen Eltern nun Farbe zu bekennen fiel mir nicht leicht. Wie sollten sie es verarbeiten, dass das eigene Kind (selbst wenn es noch so erwachsen ist) "in der Fremde" sich so einer Situation zu stellen hat. Mein Vater versuchte Fassung zu bewahren, war aber tief getroffen. Diesen Schwiegersohn hatten beide ins Herz geschlossen gehabt und ihm vertraut. Und nun diese Enttäuschung! Mein Vater ist nie ein Mann großer Worte gewesen, aber diesmal sagte seine Sprachlosigkeit alles.

Bis dahin war jedoch eigentlich noch 'nichts' passiert. Wir fuhren zu viert (mein Vater, die Großen und ich) auf den Sinai. Die Kleinen, damals zweieinhalb und dreieinhalb Jahre alt, sollten für diese eine Woche zu Sherif. Danach sollte er sie zurückbringen und wollte auch meinen Vater treffen.

Wir kamen zurück. Zu dieser Zeit gab es einige Erdbeben, die ein weiterer Schock für meinen Vater waren. Sherif kam nicht und meldete sich auch nicht. Damals hatte er noch kein Telefon, so dass auch ich ihn nicht erreichen konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich die Nachricht erhielt, dass die Kleinen wohlauf sind. Die Nachricht bekam ich von der Verwandtschaft. Warum nur hielt Sherif sich nicht an die Abmachung? Etwas stimmte da doch nicht. Meinen Vater wollte ich nicht noch mehr beunruhigen. Er sollte keine unschönen Auseinandersetzungen miterleben müssen. Es reichte so schon. Außerdem stand ihm noch bevor, alles meiner Mutter beizubringen. Als ich später erfuhr, wie er das tat, war mir klar, dass es ihn noch viel mehr belastet haben musste, als ich ahnen konnte. Statt einer Begrüßung sagte er sofort: "Sie will sich scheiden lassen."

Nachdem mein Vater weg war, ging ich zu Sherif, um die Kinder abzuholen. Heute weiß ich, wie dumm es war, allein dorthin zu gehen. Die Ahnung, dass er die Kinder als Druckmittel benutzen wollte, war mir zwar schon gekommen. Allerdings konnte ich nicht so recht verstehen, was er eigentlich wollte. Er war nicht einverstanden, dass ich die Scheidung bei Gericht eingereicht hatte. Aber er tat auch nichts, um unsere Beziehung zu verbessern. Er kümmerte sich ab und zu um die Kinder, aber auch die Zahlungen waren spärlich geworden. Was also bezweckte er? Um ihm zu zeigen, dass ich die Kinder nicht in die Auseinandersetzung einbeziehen wollte, wartete ich noch eine Woche ab und ging dann erst hin.

Da ich mich ja nicht anmelden konnte, wählte ich einen Freitagvormittag, um sicher zu sein, dass sie da waren. Der Empfang war recht kühl, was ich nicht anders erwartet hatte.
Die Reaktion der Kinder war merkwürdig. Sie trauten sich nicht zu mir. Sie kamen auf mich zu, aber hielten dann inne, als ob ihnen einfiel, dass sie etwas Falsches machten.
Ich bin dann auf sie zu gegangen und habe sie einfach in den Arm genommen. Damit war das Eis gebrochen.

Sherif versuchte es zuerst mit Ablenkung. Er würde die Kinder gern noch ein bisschen länger behalten. Es würde ihnen ja so gut gefallen, und überhaupt hätten sie doch ihr kleines Schwesterchen so gern. (Was für ein ausgezeichneter Grund!) Dann, ganz vorsichtig kam er auf den eigentlichen Punkt zu sprechen. Warum sollten die Kinder eigentlich nicht bei ihm leben, und ich könnte sie doch jederzeit sehen? (Mir fing es an heiß und kalt gleichzeitig zu werden. Noha stand wie ein Wachhund im Türrahmen. Wie sehr muss sie sich gewünscht haben, Deutsch zu verstehen.) Wie stelle ich mir denn vor, mit vier Kindern in Ägypten allein zu leben? Ja, und wie sollte er denn demnächst seine Kinder besuchen, wenn wir erst geschieden wären. Denn dann könnte er ja nicht mehr mein Haus betreten.

Mein Kopf war merkwürdig leer, als ich sagte, dass ich niemals meine Kinder abgeben würde Niemals! War wirklich ich das, die diese Worte aussprechen musste? Meine Kinder bei einer fremden Frau? Noch dazu so ein verlogenes Stück wie Noha? Diese Vorstellung war wirklich zu viel für mich. Das äußerte ich natürlich nicht. 'Für jedes Problem gibt es eine Lösung', dies war Sherifs Lieblingsspruch, den ich jetzt für ihn wiederholte.

Ja, für ihn ist die Lösung, dass die Kinder bei ihm leben sollten.
Wir diskutierten noch eine Weile hin und her, bis ich dann versuchte, diese für mich so unwirklich erscheinende Szene zu beenden und klarstellte, dass er versuchen müsste, seine Vorstellung per Gerichtsbeschluss durchzusetzen. Bis dahin würden die Kinder bei mir leben. Und jetzt würde ich bitte gehen wollen, mit den Kindern.

Merkwürdigerweise lenkte er ein. Noch mehr Gerichtsauseinandersetzungen wollte selbst er nicht. Er würde mich nur bitten, ihm die Kinder bis Freitag zu lassen. Er würde sie dann nach Ismailia bringen, das würde auch für die Kinder leichter sein. Die Kinder waren inzwischen unruhig geworden. Sie fühlten die Spannung zwischen uns und waren durcheinander. Würden sie mit mir mitkommen? Noha, die anscheinend instinktiv erfasst hatte, wie weit wir im Gespräch waren, hatte die Kinder mit ins Kinderzimmer genommen. Was machte sie da mit ihnen? Sherif stand groß vor mir aufgebaut und wirkte bedrohlich. Ich rief nach ihnen, wollte es irgendwie durchsetzen, dass ich sie nochmal sehen und mich verabschieden kann. Yassin, der kleinere entwischte als Erster, gefolgt von Yahya. Ich sagte ihnen, dass ihr Vater versprach, sie am Freitag zu bringen, dass ich auf sie warten würde und dass ich sie schrecklich lieb hätte. Oder ob sie lieber jetzt mitkommen würden? Sie waren ratlos und fingen an zu jammern. Sherif drängte mich zur Tür. Was sollte ich tun? Wie hätte ich die Beiden mitnehmen können? Ich fühlte mich auf verlorenem Posten.

Ich ging. Plötzlich kam Yassin hinter mir ins Treppenhaus gelaufen und weinte. Er wollte mit. Sherif kam, nahm ihn hoch, trug ihn rein und machte die Tür zu.
Mir brach das Herz. Was für ein kitschiger Ausdruck, und doch gibt es keinen treffenderen.
Aber sie würden ja am Freitag kommen, nicht wahr? Was waren schon ein paar Tage?

Jedoch wie sie überstehen? Wie sich beruhigen? Weil eventuell ja doch das Schlimmste eintreten könnte, nicht wahr? Das Gefühl, einen gravierenden Fehler gemacht zu haben, indem ich die Kinder dort zurückließ, setzte sich in mir fester und fester. Wie konnte mir nur Sherif, dieser sanfte liebe Typ, Angst einflößen. Und doch war dieser Moment der Bedrohung ganz klar zu spüren gewesen. Hätte ich anders handeln können? Ich hatte nichts in der Hand. Wir lebten getrennt, die Scheidung war gerade erst eingereicht.

Solange kein Gerichtsurteil über das Sorgerecht vorliegt, befinden sich beide Elternteile in Abhängigkeit voneinander. Keine der Elternparteien hat ein Recht über die Kinder. Es bedarf des Wohlwollens des anderen (egal ob Vater oder Mutter), um Kontakt zu den Kindern haben zu können. Kann kein Konsens gefunden werden, muss das Gericht entscheiden.
Normalerweise wird die Hadana (tatsächliche Personensorge, wie pflegen, aufpassen, erziehen) der Mutter zugesprochen. Dies kann vom Vater angefochten werden mit der Begründung eines schlechten Lebenswandels (Zeugen notwendig) oder wenn die Mutter Christin ist, mit der Behauptung, sie würde das Kind einer anderen Religion zuführen. Die mütterliche Personensorge gilt für den Jungen bis zu seinem 10. und für das Mädchen bis zum 12. Lebensjahr. Vom Gericht kann eine Verlängerung für den Jungen bis zum 15. Lebensjahr und für das Mädchen bis zur Heirat ausgesprochen werden. In diesem Falle kommt es zu einer Anhörung der Kinder.
Der Vater bekommt die Wilaya (väterliche Gewalt), die die gesetzliche Vertretung in personen- und vermögensrechtlichen Angelegenheiten beinhaltet.

In so einer Situation siegt der körperlich Stärkere oder derjenige, der den entsprechenden Background hat. Sherif hatte beides.
Nun galt es bis Freitag zu warten. Die Tage dehnten sich endlos. Dann kam der ersehnte Freitag und mit ihm der große Knall.

Sherif kam. Ohne die Kinder, dafür aber mit der Aufforderung, dass ich meine Koffer packen und ausziehen müsste, da er die Wohnung verkauft hätte. In genau 15 Minuten käme sein Anwalt mit dem neuen Eigentümer, bis dahin sollte ich fertig sein.
Wieder stand Sherif drohend vor mir...

Liebe Leserinnen und Leser! Ich werde fortfahren, meine Erlebnisse zu berichten, jedoch nicht, um neue Schreckensgeschichten zu präsentieren, sondern um an meinem Beispiel eine mögliche Rechtssituation darzustellen und um zu durchleuchten, wo man welchen Fehler hätte vermeiden können. Sicher haben sich hier schon viele europäische Frauen vor Gericht bewähren müssen. Meistens waren sie allein.

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt  Punkt

 

 

Teil 3 Papyrus-Logo Nr. 5—6/2000, pp. 25—32

Meine Tagebücher von 1994 bis 1997 lesen sich wie ein Drama in mehreren Akten. Immer wenn ich dachte, es könnte nicht schlimmer kommen, überschlugen sich die Ereignisse und es gab tatsächlich noch eine Steigerung. So manches Mal war ich kurz davor zusammenzubrechen und aufzugeben. Meine Nachbarn halfen mir sehr in dieser Zeit. Ohne sie hätte ich es nicht durchstehen können. Sie nahmen mich auf, als ich auf der Straße stand, waren Zeugen vor Gericht, boten Schutz und Gespräch, wann immer ich es brauchte. Und ich brauchte es oft. Jetzt machte es sich bezahlt, dass ich die Kontakte gepflegt hatte, obwohl ich des Öfteren mein deutsches Blut hatte zügeln müssen. Von deutscher Seite kam wenig oder kaum Hilfe, was recht enttäuschend für mich war.
Die Wohnung in Ismailia bestand aus zwei nebeneinander liegenden Wohnungen, bei denen wir die Trennwand herausgenommen hatten. Wenn sie auch in keiner guten Wohngegend lag, so stellte sie doch einen Wert von 50.000 L.E. dar. Für mich war sie in erster Linie ein Zuhause. Dieses Gefühl sollte verloren gehen bei den folgenden Ereignissen.

Dezember '95

Sherif kam mit seinem Schwager, der gleichzeitig sein Anwalt war, und behauptete, er habe die Wohnung verkauft. Er ließ mir genau 15 Minuten Zeit um zu verschwinden, denn dann komme der neue Eigentümer. Tatsächlich kam ein Fremder mit einem Stück Papier, von dem Sherif behauptete, dass das der Kaufvertrag sei. Sherif wirkte so bedrohlich auf mich, dass ich in Panik geriet, mich im Bad einschloss und laut um Hilfe schrie. Nachbarn holten sofort die Polizei. Der Fremde samt Anwalt war jedoch verschwunden. Sherif behauptete, dass er nur mit mir habe reden wollen und ich Theater machen würde, weil ich ihn nicht in die Wohnung lassen wollte. Ich hatte nichts in der Hand. Noch dazu musste ich der Polizei versprechen ihn demnächst einzulassen.

Als Sherif ein paar Tage später das zweite Mal kam, hatte er sich besser vorbereitet. Er packte zu und setzte mich vor die Tür. Meine damals achtjährige Tochter musste das mit ansehen. Ihr Geschrei brachte wieder die Nachbarn zusammen. Diesmal war meine Situation schwieriger, denn die Polizei zu rufen, hätte lediglich zur Folge gehabt, dass eine lange Prozedur in Gang gesetzt worden wäre, um die Sachlage zu klären. Darauf hatte Sherif gehofft. Meine einzige Chance bestand darin, wieder in die Wohnung zu kommen. Freunde halfen mir die Tür aufzubrechen, doch kaum waren wir drin, kam Sherif zurück und kurz danach die Polizei. Er beschuldigte meine Freunde des Einbruchs und mich, mit vier fremden Männern allein in der Wohnung zu sein. Ich musste bezeugen, dass ich die Tür allein aufgebrochen hatte, denn sonst hätte meine Freunde bis zu sechs Monaten Gefängnis erwarten können. Es war ein so großer Aufstand, dass wir alle zur Polizeistation mussten. Aussage stand gegen Aussage. Dem Polizeichef war deutlich anzumerken, dass er bei einer Ausländerin keinen Fehler machen wollte. So schickte er uns zum Staatsanwalt, der sein Büro im Gerichtsgebäude hat. Inzwischen war es ein Uhr nachts. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, dass Sherif so verlogen war. Er entlarvte sich selbst. Während er auf der Polizeistation angegeben hatte, mich mit den vier Männern in der Wohnung vorgefunden zu haben, behauptete er plötzlich, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie die Männer seine Wohnung aufbrachen. Den Rausschmiss an sich begründete er mit der ihm zustehenden Rechtslage, denn er wollte mich ja nur in eine andere Wohnung bringen.

Ein Wohnungseigentümer kann sein Eigentum verkaufen, wann es ihm beliebt, und der Ehemann ist berechtigt den Wohnsitz der Ehefrau zu bestimmen, notfalls mit Polizeigewalt.

Unsere Wohnung wurde versiegelt, was normalerweise nur bei Mord oder Drogendelikten geschieht. Also stand ich mit meinen beiden größeren Kindern auf der Straße. Zum Glück konnten wir bei meinen Nachbarn unterkommen. Diese mussten zum Gericht und bestätigen, dass ich schon lange in der Wohnung wohnte und dass ich die Tür selbst aufgebrochen hatte. Sie wurden auch über meinen Lebenswandel befragt. Erst nach vier Tagen konnte ich zurück in die Wohnung. Die Entscheidung des Staatsanwaltes war Sieg und Niederlage zugleich. Da ein Scheidungsverfahren bereits angelaufen war, hatte Sherif kein Recht mich woanders hinzubringen.

Bis zum Gerichtsurteil über die Scheidung hat keine der Parteien das Recht, der anderen den Zugang zur Wohnung zu verweigern. Die Wohnung würde dem Elternteil zugesprochen, der das Sorgerecht erhält. Handelt es sich um eine Eigentumswohnung, kann der Eigentümer Besitzrecht beanspruchen, muss dann aber eine Mietwohnung von gleichem Standard zur Verfügung stehen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die Ungeheuerlichkeit dieses Versuchs, mich vor die Tür zu setzen mit allen Details, wie der körperlichen Attacke und mitten in der Nacht vor Polizei und Staatsanwaltschaft unter Anklage zu stehen, verkraftet hatte. Hinzu kam die Ungewissheit über die Kinder. Wie ging es ihnen? Waren sie gesund? Weinten sie nach mir? Wie war nach dem vorgefallenen Geschehen mit Sherif noch ein Gespräch über die Kinder möglich?

Januar '96

Sherif kam mehrmals um Gegenstände abzuholen, von denen er meinte, dass sie ihm gehörten. Immer wieder kam es dabei zu kleineren und größeren Tätlichkeiten. Er versuchte Papiere aus meinem Schreibtisch zu entwenden, und als ich mich ihm in den Weg stellte, schleuderte er mich grob beiseite. Ein anderes Mal schlug er richtig fest zu, so dass ich auf dem Boden landete. Doch diesmal war ich selbst schuld. Ich hatte die Nerven verloren bei seinen ständigen Bedrohungen und beschimpfte ihn dermaßen, dass wahrscheinlich jeder andere schon viel eher zugeschlagen hätte. Leider gab es keine sichtbaren Zeichen an mir und nicht genügend Zeugen, um eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Darauf hatte ich es auch nicht abgesehen gehabt. Ich war einfach ausgerastet. Er weigerte sich, über die Kinder auch nur zu reden.

Februar '96

Sherifs Bruder starb. Die Beerdigungszeremonie fand im Hause des Onkels statt, zu dem ich ging, um der Familie mein Beileid auszudrücken. Hier fand ich meine beiden kleinen Kinder zufällig im Hinterzimmer. Sherif kam jedoch sofort und meinte, da ich ja schon einmal die Polizei geholt hätte, müsste ich das in Bezug auf die Kinder auch tun. Zu sehen bekäme ich sie erst mit Gerichtsbeschluss. Ansonsten sollte ich verschwinden oder er würde mich vor allen Leuten schlagen. Er war völlig außer sich.
Weinend lief ich durch die Straßen direkt zu meinem Anwalt, der gleich am nächsten Morgen die Sorgerechtsklage erhob.

März '96

Telefonterror begann. Anscheinend wurde kontrolliert, wann ich zu Hause war und wann nicht. Sherif kam und wieder setzte er mich mit Gewalt vor die Tür. Diesmal hatte er sich mit seiner Schwester abgesprochen, denn diese wartete an der Rückseite des Hauses, um die Tasche, die Sherif vom Balkon hinunterwarf, in Empfang zu nehmen. Darin waren meine sämtlichen Papiere aus dem Schreibtisch. Dank sofortiger Verfolgungsjagd durch Nachbarn und Polizei konnte die Schwester aufgehalten werden. Sie wurde von zwei Autos eingekreist und musste die Tasche hergeben. Die Szene war filmreif. Doch wieder reichte es nicht zur Anklage, denn Sherif behauptete, ich hätte ihn gehindert seine Sachen einzupacken. Außerdem hätte er mich sofort wieder hineingelassen, wenn er mit dem Packen fertig gewesen wäre. Aussage gegen Aussage, denn in der Wohnung waren wir ja allein gewesen.

April '96

Die Scheidung in 1. Instanz wurde ausgesprochen. Gott sei Dank! Sherif rief an, um zu gratulieren und drohte gleichzeitig in Berufung zu gehen. Bei diesem Anruf verlangte er zum ersten Mal, dass meine beiden Großen die Wohnung zu verlassen hätten, dann würde ich die Kleinen bekommen. Er setzte mir eine Frist von zwei Tagen, dann würde er mit der Polizei kommen. Mein Anwalt beruhigte mich zwar, dass das nicht sein Recht wäre, aber ich hatte trotzdem Angst. Sherif kam nicht, doch er rief bei der Familie meines ersten Mannes an, damit diese die Kinder abholen sollten, denn ich wäre ja so eine schlechte Mutter. Sie hielten jedoch zu mir.

Mai '96

Ein drittes Treffen mit den Kleinen kam zustande. Sherif wurde vor einem Richter während der Verhandlung genötigt, "sich wie ein ordentlicher Universitätsdozent" zu verhalten und mich die Kinder sehen zu lassen. Direkt nach der Verhandlung trafen wir uns im Haus des Onkels. Ach, meine Babys! Ich hatte Angst aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war. Es war so schön, sie wieder im Arm zu halten, doch der Abschied war furchtbar. Sherif musste Yahya weinend von meinem Schoß ziehen.
Das Versprechen, mir auch weiterhin Kontakt zu erlauben, hielt Sherif danach nicht mehr ein. Er wollte, dass ich sämtliche Anklagen gegen ihn fallen lasse.
Eine Woche später nahm er mir das Telefon weg. Von meinem Geld bezahlt, aber auf seinen Namen laufend, hatte er es seiner Schwester überschrieben. Ein furchtbarer Tag!

Juli '96

Sherif legte Berufung gegen das Scheidungsurteil in erster Instanz ein – genau zwei Tage vor Ablauf der Frist.

August '96

Nachdem Sherif zunächst alle Vermittlungsversuche von seiten meines Anwalts, seines Onkels und der Nachbarn abgelehnt hatte, stimmte er einem persönlichen Gespräch mit mir an einem neutralen Ort zu. Seine Forderungen waren sehr hoch. Er wollte die Wohnung, dafür sollte ich die Möbel behalten können. Wäre ich einverstanden, könnte ich die Kinder sehen. Bei Weigerung würde er dafür sorgen, dass meine Großen die Wohnung zu verlassen hätten und außerdem würde er Noha und seine Kinder hereinbringen. Wieder beruhigte mich mein Anwalt, dass es keine rechtliche Basis dafür gebe. Inzwischen war ich jedoch so weit, dass ich Sherif einen Versuch, es irgendwie doch durchzusetzen, zugetraut hätte. Es kam zu keiner Einigung bei diesem Treffen.
Zwei Tage später fuhr Sherif gemeinsam mit seinem Schwager und Anwalt aufs Land zur Familie meines ersten Mannes. Mit vielen bösen Worten und Lügen versuchte er die Familie zu überzeugen, mir doch die beiden Großen wegzunehmen. Dann würde er dafür sorgen, dass ich das Land zu verlassen hätte. Er bekam "passende" Antworten.

Oktober '96

Der Zufall verhalf zu einem weiteren Treffen mit den beiden Kleinen. Es war das vierte Mal innerhalb von elf Monaten. Sherif hatte sie bei einer Verwandten in Ismailia gelassen. Völlig unvorbereitet sah ich sie auf der Straße. Zu erkennen, oh Gott, das sind ja meine eigenen Kinder, ist ein sehr fremdartiges Gefühl. Neun Monate waren sie in meinem Bauch gewesen, drei Jahre hatten wir zusammengelebt, fünf Monate waren vergangen seit unserem letzten Treffen. Meine Hoffnungen waren auf dem Nullpunkt und meine Sehnsucht nach ihnen unendlich schmerzhaft. Und da standen sie einfach auf der Straße und lebten!
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie Vertrauen fassten, doch dann verbrachten wir noch einen schönen Nachmittag zusammen. Yassin saß auf meinem Schoß und meinte, dass ich ja gar nicht Baraka sein könnte, denn er wusste genau, dass Baraka zwar seine andere Mutter, aber eine schlechte Frau sei. Ich schien in seinen Augen wohl zu nett dafür. Hier wäre Gelegenheit gewesen die Kinder mitzunehmen, aber ich hatte noch kein gültiges Gerichtsurteil in der Hand. Außerdem hatte ich Angst vor diesem Menschen, der mal mein Mann war. Angst um meine beiden Großen, um mich, fast sogar um unser Leben. Wieder gab es einen schweren Abschied. Jedes Mal war es schlimmer als das vorherige Mal.

November '96

26.11.1996, Tag der Freiheit! Die Scheidung in zweiter Instanz wurde ausgesprochen. Niemand hatte mehr ein "Recht über mich". Obwohl ich vor einem Scherbenhaufen stand, war ich so glücklich, dass ich eine Zeitlang barfuß hätte darüber laufen können.

Dezember '96

Zweite große "Rausschmissaktion". Wieder wurde ich mit Gewalt vor die Tür gesetzt, wieder in der Silvesternacht. Diesmal war es ein besser durchdachter Plan von Sherif. Kaum war ich draußen, kam Noha die Treppe herunter und Sherif ließ sie ein. Wieder Polizei, doch die beiden blieben verbarrikadiert. Wegen der Silvesternacht war der Polizeioffizier, der für Wohnungsöffnungen und -räumungen zuständig gewesen wäre, nicht da. Es blieb mir nichts anderes übrig, als bis zum nächsten Morgen zu warten, während Sherif und Noha in meiner Wohnung, in meinem Bett, an meinem Tisch saßen. Meine Nachbarn boten wieder Zuflucht. Die Kinder und Jugendlichen der Nachbarschaft machten sich ein Vergnügen daraus, Sherif und Noha zu ärgern. Sie donnerten gegen die Tür, sangen Beleidigungen, kappten das Telefon – solange, bis Noha in Tränen ausbrach.
Irgendwann in der Nacht verschwand Sherif kurz, kam aber bald wieder. Am anderen Morgen erzwang der zuständige Polizeioffizier Eintritt. Mit dabei waren an die fünf bis sechs einfache Polizisten mit Gewehren. Sie sprangen nicht freundlich mit Sherif um, sehr zu meiner Genugtuung. Beide wurden abgeführt zur Polizeistation, leider ohne Handschellen, dafür standen alle Nachbarn draußen, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Wieder eine filmreife Szene.
In der Wohnung hatte ich feststellen müssen, dass etwas von meinem Goldschmuck (zwei Armreifen), Kosmetikartikel und das Fotoalbum von den beiden Kleinen fehlten. Ich erstattete Anzeige, aber niemand schien das ernst zu nehmen. Aussage gegen Aussage und ich hatte keine Beweise.
Sherifs Argument für seine "Wohnungsübernahme" war, dass die Scheidung ja nun ausgesprochen, die Kinder außerdem bei ihm seien und ich somit kein Recht auf die Wohnung hätte.
Noha keifte wild mit herum, besonders in Bezug auf die Kinder. Ich hätte sie auf die Straße gesetzt und wolle sie ja gar nicht. Ich käme ja nicht mal sie zu besuchen. Sie sei die eigentliche Mutter, da sie die Kinder aufziehe. Unglaublich, sich so etwas anhören zu müssen. Wie sollte ich diese ägyptischen Männer um mich herum von meiner Liebe zu meinen Kindern, die für mich so selbstverständlich wie das Atmen ist, überzeugen? Und das alles auf Arabisch. Vor lauter Entsetzen fand ich keine Worte.
Doch das war gar nicht nötig. Der Polizeichef meinte zu Sherif, dass er nicht verstehen könne, wie er mich gegen so eine Frau habe austauschen können. Mein Anwalt brach in schallendes Gelächter aus, das hatte er noch nie erlebt. Mir war allerdings nicht zum Lachen zu Mute. Wieder mussten wir zum Gericht vor den Staatsanwalt.

Hier wird immer noch einmal versucht eine Schlichtung der streitenden Parteien zu erreichen. Die Abmachungen sind mündliche Absprachen zwischen den Streitenden, die jedoch keine Rechtswirksamkeit besitzen, denn schon am anderen Tag kann man seine Meinung ändern. Das würde bedeuten, dass ein Gerichtsverfahren angestrengt werden müsste. Allerdings wird alles schriftlich festgehalten, so dass es durchaus später im Verfahren benutzt werden kann, um bspw. gute oder böse Absichten zu beweisen oder auch ein Charakterbild zu begründen.

Das wusste ich zu dem Zeitpunkt jedoch noch nicht und nahm darum unsere Abmachung ernst. Wir einigten uns auf eine Zahlung von 3.000 L.E. an mich als Anzahlung auf eine Mietwohnung, die ich nun suchen sollte. Die Kinder würden zu mir kommen, die Wohnung und einen Teil der Möbel übernehme er. Mir war das sehr recht, weil ich so eine Chance sah, meine Kinder zurückzubekommen. Ich erzwang ein Besuchsrecht und wir einigten uns auf ein Treffen jedes zweite Wochenende mit den Kindern im Club.
Es gestaltete sich sehr schwierig. Oft kamen sie gar nicht und immer war Noha dabei, so dass es keine wirkliche Möglichkeit gab, Kontakt zu den Kindern herzustellen. Einmal kam es zu einer Szene. Yahya, der größere von beiden, war damals knapp 5 Jahre alt. Er schrie mich an, dass ich eine Diebin sei, mitten im Club vor allen Leuten und natürlich auf Arabisch. Die deutsche Sprache war weitgehend verloren. Dabei kam zutage, dass er glaubte, wir hätten alle gemeinsam, Noha und ihre Tochter inbegriffen, in Kairo gelebt. Ich hätte sie jedoch schlecht behandelt, ihnen kein Essen gegeben und sie auch geschlagen. Dann wäre ich eines Tages abgehauen und hätte jede Menge Spielsachen mitgenommen und Geld gestohlen. Er war geistig völlig vergiftet. Ich war die Feindin, die ihn jetzt auch noch vom Vater wegnehmen wollte.
Jedes Treffen war eine einzige Qual, jedoch auch mit kleinen Lichtblicken durchzogen. Es war ein Riesenerfolg, wenn ich mal zwei, drei Sätze mit Yahya reden konnte. Aus meinem eigenen Schmerz heraus konnte ich seinen Schmerz ja nur zu gut verstehen.
Eine Wohnung zu finden war nicht einfach. Sie durfte nicht zu teuer, musste in Schulnähe und auch noch groß genug für vier Kinder sein. Allerdings muss ich zugeben, nicht sehr intensiv gesucht zu haben, denn mein Misstrauen war zu groß. Würde er mir wirklich die Kinder geben? Was sollte ich ohne meine Nachbarn tun, wenn er dann noch käme, um Ärger zu machen? Nach wie vor hatte ich das Gefühl, dass er mich am liebsten nach Deutschland schicken würde. Sherif dauerte alles zu lange.

März '97

Sherif bestand auf einem Treffen beim Anwalt. Wir einigten uns, dass er eine Wohnung besorgen würde mit einem Vertrag über die Zeit, in der ich das Recht für die Kinder hätte, also für mindestens 7 oder 8 Jahre.

19. Mai '97

Das Sorgerecht für die Kinder wurde mir zugesprochen und verkündet. Die Urkunde konnte man jedoch erst nach einer Woche abholen.

23. Mai '97

Sherif kam mit fünf anderen Männern nachts um 23 Uhr, kappte als Erstes das Telefon und verlangte Einlass. Er wollte die Wohnung wieder teilen, hatte Männer und Steine mitgebracht, um die Trennwand hochzuziehen. Nachts um 23 Uhr! Wieder zur Polizeistation. Diesmal sollte es eine schwere Nacht werden. Sherif behauptete, ich würde ihn hinhalten, denn ich hätte eine Wohnung abgelehnt. Diese Wohnung war unzumutbar gewesen. Es gab nur zwei kleine Zimmer und der Mietvertrag belief sich nur auf ein Jahr. Sherif sah das ganz anders. Darum wollte er nun die Wohnung teilen. Ich könne mit den Kindern in einer Hälfte leben und er würde in die andere ziehen. Seine Mietzeit in Kairo sei um, er brauche dringend eine Wohnung! Für mich eine absolute Horrorvision. Mit ihm und seiner Frau Seite an Seite und die Kinder mittendrin. Unmöglich!
Zu meinem Pech sah man das auf der Polizei ganz anders. Plötzlich stand ich als diejenige da, die Ärger machte. Dann hätte ich doch, was ich wollte, die Kinder und eine Wohnung. Und er hätte doch gar keinen Grund mehr Ärger zu machen, außerdem würde die Polizei doch mit aufpassen. Es war zum Verzweifeln. Ich wollte wieder zum Gericht, aber da reagierte der Polizeichef sehr pikiert. Also versuchte ich Zeit bis zum nächsten Morgen herauszuholen, denn Sherif wollte die Trennwand immer noch in der gleichen Nacht hochziehen. Es war seine einzige Chance, denn rechtlich gesehen war er nicht dazu befugt. Auch der Polizeichef lag falsch, doch wie ihn dazu bringen, das zuzugeben? Die Argumente meines Anwaltes interessierten ihn nicht. Er wollte uns eigentlich nur loswerden. Da endlich konnte ich mich mal gehen lassen und verlor die Nerven. Ich fing einfach an hysterisch zu heulen und zu jammern. Diese gewisse "Unlogik" in meinem Verhalten bewirkte mehr als das Beharren auf meinem Recht. Das lief jedoch nicht kalt geplant bei mir ab. Vielleicht zeigten die "Beratungen" meiner ägyptischen Nachbarinnen endlich mal Wirkung, vielleicht war es auch das Gefühl mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Was auch immer, es wirkte! Wir durften die Nacht auf der Polizei verbringen und am anderen Morgen zum Staatsanwalt.
Hier kam es mal wieder zu einer mündlichen Absprache. Wir einigten uns darauf, die Wohnung zu teilen. Ich würde ihm die eine Wohnungshälfte abkaufen und die andere Hälfte müsste er mir für die Zeit des Sorgerechts zur Verfügung stellen. Er hatte nicht viel Möglichkeit abzulehnen, denn der Staatsanwalt übte Druck auf ihn aus, da er anhand der Akte sehen konnte, was schon alles vorgefallen war. Mein Anwalt bestand auf Zeugen, damit diese Abmachung mehr Gewicht bekam. Doch es sollte auch nichts helfen. Ich hatte nur zwei Tage Zeit, mich von dieser Nachtaktion wieder zu erholen, dann kam der nächste Angriff. Dieser sollte der schlimmste werden.

26. Mai '97

Morgens um 8 Uhr kam Sherif mit Männern und ließ die Wand neben der Eingangstür, die frühere Eingangstür, durchbrechen. Ich war schon früh zur Arbeit gegangen, denn zwischen all den Problemen musste ich ja auch noch Geld verdienen. Mein Sohn Ahmed war allein zu Hause, für ihn sollte es der Schreck seines Lebens werden. Er lief auf den Balkon um Hilfe zu rufen, da wurde er von Sherif so hart angepackt, dass die inzwischen herbeigelaufenen Nachbarskinder anfingen, Sherif mit Steinen zu bewerfen. Als ich von der Arbeit kam, war die Wand schon durchbrochen, der Zement gemischt, die Nachbarn auf der Treppe versammelt und die Polizei schon auf dem Weg. So fühlte ich mich recht stark. Das Wichtigste war, die Arbeiter von der Arbeit abzuhalten. Ich schrie furchtbar herum, riss dem einen Arbeiter die Schaufel aus der Hand und feuerte sie im hohen Bogen aus dem Fenster, packte ihn am Kragen und meinte, er werde hinterher fliegen, wenn er nicht aufhöre. Alle waren so verdutzt, dass keiner sich traute mich anzufassen. Diesmal war ich sehr berechnend und mein Adrenalinspiegel war auf dem Höhepunkt. Mir war klar, dass das Beste, was mir passieren konnte, Schläge von Sherif wären. Er war auch kurz davor, aber durchschaute wohl mein Spiel. Wieder Polizei!
Sherifs Argumente waren recht schwach. Er habe seine Meinung einfach geändert, wolle nicht mehr verkaufen, basta. Damit kam er jedoch diesmal nicht so einfach durch beim Polizeichef, der, total genervt über die ganze Geschichte, wieder auf meiner Seite stand.
Endlos lange Debatten wurden geführt. Ich saß nur noch in der Ecke und war total erschöpft. Das ist meine einzige Entschuldigung für die Dummheit, die ich dann beging.
Wir einigten uns, dass ich ihm einen Scheck ausstellen würde für die Wohnungshälfte wie bei der vorherigen Einigung. Gleichzeitig unterschrieben wir beide einen Kaufvertrag. Da jedoch diese Wohnungen eigentlich noch der Stadt Ismailia gehörten und erst bei vollständiger Abzahlung auf den Namen des Eigentümers überschrieben werden können, brauchte ich eine spezielle Vollmacht von Sherif. Ohne diese Vollmacht konnte ich zwar in der Wohnung leben und sie auch weitervermieten, aber nicht verkaufen. Dazu müsste ich erst den Rest der Abzahlung leisten. Somit war ich zwar sicher vor Sherif, aber es barg ein Risiko in sich, was mir jedoch nicht bewusst war. Inzwischen war es später Nachmittag und meine Erschöpfung weit fortgeschritten. Ich war nicht fähig auf Details zu achten und vertraute nur noch auf meinen Anwalt. Der beging den Fehler zu glauben, dass Sherif nur an dem Geld gelegen sei. So einigten wir uns darauf, dass ich einen Scheck auf Sherif mit Datum 4. Juni ausstellte – dem Datum unseres Treffens beim Notariatsamt. An diesem Tag würde mir Sherif die Vollmacht ausstellen und ich ihm den Scheckbetrag in bar übergeben, worauf er mir meinen Scheck zurückgäbe. Also eine Sache Zug um Zug. Ich unterschrieb den Scheck – und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

4. Juni '97

Tag der Scheckrückgabe und der Vollmachtsausstellung. Wer kam nicht? Sherif! Selbst sein Anwalt, der erschien, war überrascht, denn er wusste nichts von Sherifs Absicht. Dieser hatte am selben Tag den Scheck schon eingereicht. Ein Bruch unserer Abmachung! Ich hatte mir das Geld für den Scheckbetrag geliehen. Mit meinem Anwalt war vereinbart, bis kurz vor Bankschluss das Geld darauf liegen zu lassen. Hätte ich es zu früh abgeholt, wäre der Scheck ungedeckt. Gerade als ich um zehn vor zwei die Bank betrat, kam ein Angestellter auf mich zu und meinte, dass soeben ein Fax eingetroffen sei, damit das Geld ausgezahlt wird. Dann ging alles sehr schnell. Mein Anwalt hatte mich gewarnt, den Scheck durchgehen zu lassen, doch der Bankmanager meinte, es sei kein Problem, ihn zu stoppen. Ich ließ ihn stoppen. Das Geld war geliehen, ich wollte es auf keinen Fall verlieren. Das war mein Untergang.

Ein Scheck ist ein flüssiges Zahlungsmittel. Außer in Ausnahmefällen ist ein Stoppen nicht möglich. Man hat nur hinterher die Möglichkeit Berufung einzulegen, um sein Geld zurückzubekommen. Diese Regelung orientiert sich am französischen Recht. Man hat mit einer Gefängnisstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren zu rechnen, je nach Höhe des Schecks.

Natürlich reichte Sherif umgehend Anklage wegen Scheckbetrugs gegen mich ein. Ich fühlte mich ziemlich verloren. Jetzt hatte er mich in der Hand und konnte Forderungen stellen. Er wollte die Wohnung zurück, und sollte ich die Kinder mit Polizei abholen, könnte ich mit Gefängnis rechnen.
Es war eine Sackgasse. Während des Gerichtsverfahrens wegen Scheckbetrugs mußte ich ihm die Summe auszahlen, um der Gefängnisstrafe zu entgehen. Würden wir den Kaufvertrag rückgängig machen, wäre die Wohnung verloren und ich stünde endgültig auf der Straße. Wie sollte ich in so einer Situation das Sorgerechtsurteil vollstrecken lassen? Also hieß es erst einmal abwarten.

Juli / August '97

Ich fand für zwei Monate Arbeit in einem Krankenhaus in Kairo. Fast täglich musste ich zwischen Kairo und Ismailia pendeln. Es war ein heißer Sommer, doch das bemerkte ich nicht. Geld zu verdienen tat gut und war dringend nötig.

September '97

Eine merkwürdige Funkstille war entstanden, bis ich herausfand, dass Sherif sich zu Studienzwecken in Deutschland aufhielt. Die Kinder waren jedoch hier. Das war meine Chance an die Kinder heranzukommen. Immerhin hätten wir eine Weile Ruhe gehabt vor ihm. Mein Anwalt war nicht begeistert, denn die Scheckklage lief noch. Mein Mutterherz jedoch war keiner Vernunft mehr zugänglich. Gemeinsam mit meinem Anwalt, dem Gerichtsvollzieher und – leider – einem Wagen voll bewaffneter Polizisten, fuhr ich zur Wohnung von Sherif und Noha. Ich war furchtbar nervös. Wie würden die Kinder reagieren? Doch Noha sah uns bei ihrem Einkauf am Ende der Straße, nahm die Kinder und versteckte sich mit ihnen irgendwo bei Verwandten. Wieder einmal kam ich mir vor wie in einem Film. Immerhin gab es mir Gelegenheit, die Deutsche Botschaft einzuschalten, und gemeinsam mit meiner Schwester wurde in Deutschland starker Druck auf Sherif ausgeübt. Er versprach schriftlich, die Kinder bei seiner Rückkehr herauszugeben, wenn ich ihm ein Besuchsrecht einräumen würde. Ich musste mich mit allem einverstanden erklären.
Nach seiner Rückkehr war davon natürlich nichts mehr wahr. Sein Zugeständnis an die Deutsche Botschaft hatte in Ägypten keine Rechtsgültigkeit. Sherif war sehr erbost über die Schwierigkeiten, die ich ihm in Deutschland bereitet hatte. Wieder drohte er mit Gefängnis. So bestand ich vorläufig nur auf einem Besuchsrecht, welches Sherif mir ab jetzt nur noch bei ihm zu Hause zugestand.
Im September erlaubte Sherif erstaunlicherweise, dass ich Yassin für eine Woche mit zu mir nehmen durfte. Er wollte dann am Wochenende mit Yahya nachkommen. Ich war überglücklich und dachte, dass sich vielleicht doch etwas ändern würde. Yassin fühlte sich recht wohl bei uns. Er war erstaunt, Essen im Kühlschrank zu finden und auch noch davon essen zu dürfen. Ein Schockerlebnis bereitete er mir, indem er meinte, dass es schon schade wäre, wenn ich sie zu mir holen würde, denn dann müssten sie leider vom Balkon springen. Das hätte ihnen Noha eingeschärft!
Sherif kam nicht nach dieser Woche und meldete sich auch nicht. Ich wartete. Später stellte Sherif es so dar, dass ich diejenige war, die den Jungen nicht zurückgeben wollte. Es gab jede Menge Drohungen am Telefon, bspw. Yassin zu entführen und mich dann deswegen anzuklagen. Irgendwann war ich einfach mit den Nerven am Ende. Ich brachte Yassin zurück. Wir weinten alle gemeinsam. Später behauptete Sherif, mein großer Sohn habe sich an Yassin unter der Dusche vergangen. Natürlich nur um weitere Besuche bei mir verbieten zu können. Ich bin mir sicher, dass diese Dinge von Noha stammten. Meinem großen Sohn hat sie versucht zu erzählen, dass sein Vater keines natürlichen Todes gestorben sei, sondern dass ich ihn umgebracht hätte.
Ich wollte nur noch weg, sah keine Hoffnung mehr. Alle vier Kinder wurden immer mehr geschädigt. Wie nur sollte man diese Wunden in ihren jungen Seelen jemals wieder heilen können?

November '97

Am Ende meiner Kraft angelangt, gab ich Sherifs Forderungen nach.
Wir vereinbarten einen Termin zur Wohnungsübernahme am Notariatsamt. Sherif würde seine Anklage wegen Scheckbetrugs zurücknehmen. Ich würde in die Wohnung eines Freundes ziehen. Dann sollte ich die Kinder sehen können, wann ich wollte, woran ich jedoch schon nicht mehr glaubte. Ich räumte die Wohnung leer, doch am Abend bevor es zum vereinbarten Treffen kommen sollte, rief Sherif an und bestand auch noch auf einem Großteil der Möbel oder er käme erst gar nicht. Ich wünschte ihm den Tod durchs Telefon.

Dezember '97

Mit den beiden Großen lebte ich nun in der Wohnung, die ein Freund mir freundlicherweise zur Verfügung stellte. Das Gericht hatte mich wegen des gestoppten Schecks zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt, da ich während der Verhandlung das Geld an Sherif ausgezahlt hatte. Sherif hätte mich anscheinend lieber im Gefängnis gesehen, denn er reichte nun wegen der verzögerten Zahlung eine Schadensersatzklage ein. So hatte ich schließlich die eine Wohnungshälfte zum zweiten Mal gekauft. Sie war seinerzeit mit meinem Geld, aber auf den Namen von Sherif gekauft worden. Er hatte mir erklärt, dass ich als Ausländerin große Schwierigkeiten, u.a. auch hohe Steuern zu erwarten hätte, wäre sie auf meinen Namen. Heute weiß ich, dass es möglich ist, sich in so einem Fall abzusichern.
Ich ließ die Trennwand einbauen und eine ganze Zeit standen beide Wohnungen leer. Für zwei Jahre war ich wie eine Gefangene in der Wohnung festgehalten gewesen. Schlafstörungen waren chronisch geworden, keine Nacht konnte ich richtig durchschlafen. Alpträume rissen mich aus dem Schlaf, und ich schaute nach, ob die Messer immer noch an ihrem versteckten Platz lagen. Den Kontakt zu Sherif brach ich ab.
Selbst für Vermittlungsversuche anderer Personen war ich nicht zugänglich. Ich brauchte dringend Erholung. Dieser Zustand dauerte fünf Monate, erst danach war ich wieder fähig mich der Realität zu stellen. In der Zwischenzeit hatte ich meine Wohnungshälfte renoviert.

Mai '98

Wir zogen wieder in unsere Wohnung ein, während Sherifs Hälfte, ja nun abgetrennt von meiner, weiterhin leer stand. Ich fing an die beiden Kleinen in Kairo zu besuchen, indem ich einfach unverhofft vor der Tür stand. Sherif und Noha waren beim ersten Mal so überrascht, dass sie mich einließen. Es war meinerseits mehr Feststellung als Frage, dass ich von jetzt an die Kinder besuchen würde, und wenn ihnen das nicht gefiele, könnten sie mich ja mit Polizei wegbringen lassen. Doch Noha hatte ihre eigenen Methoden.
Zuerst probierte sie es mit Freundlichkeit, denn es gab immer noch ein paar Möbel, die sie gern wollte. Als ich nicht darauf einging, wechselte sie die Taktik. Mal stellte sie mich als Diebin hin, ein anderes Mal stahl sie mir meinen Pass aus der Handtasche. Ständig rief Sherif an, um mich von meinen Besuchen abzubringen. Ich ließ mich nicht abhalten, aber ging auch nicht sehr oft hin, denn jedes Mal reagierten die Kinder stärker gegen mich. Yahya versteckte sich im Schlafzimmer oder unter dem Tisch und zeigte deutlich seine Wut. Er ging auf seine größeren Geschwister los und versuchte auch mich ständig zu provozieren. Yassin hielt sich lange Zeit recht gut, bis er mir mal ein kleines selbst gemachtes Geschenk gab. Dafür muss er anscheinend ordentlich Ärger bekommen haben, denn das nächste Mal versteckte auch er sich unter dem Tisch. Es gab jedoch auch Momente, in denen ich ihnen meine Liebe signalisieren und zeigen konnte, dass doch nicht alles stimmen könnte, was über mich erzählt wurde. Doch die beiden litten sehr. Sie waren abhängig von der Frau, mit der sie zusammen lebten und konnten sich diesem Druck nicht entziehen. Auch meine größeren Kinder litten. Fatima brach immer wieder in Tränen aus, während Ahmed aggressiv reagierte. Neben meinem eigenen Schmerz musste ich auch dies noch auffangen, während mich alle Welt verurteilte, wieso ich denn nicht meine Kinder nähme und z.B. nach Deutschland verschwände. Für mich war Kindesentführung aber gesetzwidrig und keine Lösung.
So schränkte ich also meine Besuche weitgehend ein. Erst wenn es so weit war, dass ich in Tränen ausbrach, wenn ich nur ein kleines Kind sah, ging ich wieder hin. Bei meiner Hartnäckigkeit verlor Noha irgendwann die Geduld.

Mai '99

Mit wüsten Beschimpfungen und nahe daran, mich körperlich anzugreifen, warf Noha mich endlich aus ihrer Wohnung. Yahya ging dabei mit dem Stock auf mich los. Wieder einmal stand ich heulend auf der Straße. Im Nachhinein bin ich froh über dieses Geschehen, denn die Kinder werden sich später einmal daran erinnern. Geschlagen geben wollte ich mich jedoch nicht, denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon beschlossen, nach Kairo zu ziehen und das Glück, ein gutes Angebot für eine Mietwohnung zu bekommen. Eine neue Schule zu finden, die Renovierung der Wohnung und der Umzug nahmen den ganzen Sommer in Anspruch. Ich wollte natürlich nicht, dass Sherif erführe, was ich vorhatte, doch das hätte ich mir sparen können, denn er hatte seine eigenen Pläne.

September '99

Nach dem Umzug wollte ich Sherif an der Universität aufsuchen, um mit ihm über eine Besuchsmöglichkeit zu reden. Dort erfuhr ich, dass er außer Landes ist. Er ist beurlaubt, um im Jemen zu unterrichten. Die Kinder hat er mitgenommen. Wie mag es ihnen dort wohl gehen?

Januar 2000

Zum Start ins neue Jahrtausend bekam ich Nachricht vom Gericht, dass ich als Strafe für versuchten Scheckbetrug 2.000 L.E. an Sherif zu zahlen hätte. Zwei Jahre hatte das Gericht gebraucht, um Sherifs Schadensersatzklage vom Dezember 1997 zu bearbeiten. Mein Einspruchsverfahren ist bereits angelaufen.

Dies ist die vorläufig letzte Folge des Ehedramas, aufgeschrieben und veröffentlicht, um die Rechtssituation zu verdeutlichen und um in ähnlicher Weise betroffene europäische Frauen zur Solidarität anzuregen.

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt  Punkt

 

 

Teil 4 Papyrus-Logo Nr. 1—2/2003, pp. 29—35

(Eigentlich umfaßt das PapyrusArchiv nur Ausgaben bis Ende 2002.
In diesem besonderen Fall machen wir eine Ausnahme. –Anm. KFN.)
Die Trennung von meinen Kindern

Als ich davon erfuhr, dass mein Mann eine zweite Frau geheiratet hatte, waren unsere beiden gemeinsamen Kinder 2 Jahre bzw. 10 Monate alt. Mit dieser Nachricht wurde ich in ein Wechselbad von Gefühlen gestürzt, wie ich es bis dahin noch nie gekannt hatte. Und es begann sich ein Karussell an Streitigkeiten, Verdächtigungen und Nachstellungen, Versprechungen und Lügen, Betrügereien und Manipulationen, Demütigungen und Verletzungen zu drehen, in das wir alle – die Kinder aus meiner ersten Ehe (mein erster Mann, ebenfalls Ägypter, starb 1988), mein Mann, seine zweite Frau, ich und vor allem unsere beiden kleinen Söhne – einsteigen mussten. Wir alle litten entsetzlich, und wahrscheinlich konnte nicht einmal mein Mann seine neue Liebe genießen. Nach einem Jahr wurde mit der Scheidung ein Schlussstrich unter diese Ehe gezogen. Diese "Geschichte (m)einer Ehe" wagte ich im Jahr 2000 in mehreren Folgen in PAPYRUS zu veröffentlichen. Mehrfach wurde ich nach der Fortsetzung meiner Ehegeschichte gefragt. Sie ist für mich eigentlich abgeschlossen. Inzwischen lebe ich insgesamt seit 12 Jahren in Ägypten und es geht mir wieder gut, aber einen Schlussstrich unter den grausamen Streit um unsere Kinder – den gibt es leider (noch lange) nicht.

Als ich damals im Januar 2000 erfuhr, dass mein geschiedenen Mann Sherif unsere beiden Jungs, Yahya, 8 Jahre, und Yassin, 7 Jahre, zu einem Arbeitsaufenthalt mit in den Jemen genommen hatte, gab es viele widerstreitende Gefühle in mir. Ich hatte das Gefühl, den Kampf um sie verloren zu haben und empfand die Ohnmacht, nichts tun zu können. Die Ungerechtigkeit der ganzen Situation auszuhalten – das war fast nicht möglich.

So stand ich auf dem Uni-Gelände, um an seinem Arbeitsplatz Näheres zu erfahren. Der Boden bebte unter meinen Füßen und mein Gesicht war rot, als wäre ich geschlagen worden. Ich hatte ja keine Ahnung, wie lange er mit seiner neuen Familie außer Landes bleiben wollte. An der Uni klärte man mich dann auf, dass der Auslandsaufenthalt bis zu vier Jahre dauern könnte. Vier Jahre! Das ist eine lange Zeit! Unvorstellbar! Wie sehr würden sich meine Söhne in dieser Zeit verändern, vielleicht würde ich sie, würde ich sie zufällig auf der Straße treffen, gar nicht mehr erkennen!

Und doch, ganz tief in mir, war auch ein anderes Gefühl, dessen ich mich natürlich schämte: Ich war erleichtert! Wie furchtbar, dass ich mir dies als Mutter eingestehen musste. Die jahrelangen Auseinandersetzungen um die Kinder hatten meine Kräfte aufgebraucht, ich fühlte mich am Ende. Immerhin war nicht ich diejenige, die eine so gravierende Trennung herbeigeführt hatte. Diesmal konnte die Wahrheit vor den Kindern nicht verdreht werden! Nicht ich war gegangen, sondern er ging mit ihnen so weit weg! Ich hatte hier durchgehalten und war nicht nach Deutschland zurückgekehrt!

Doch dieses Gefühl der Genugtuung hielt nicht lange an. Wahrscheinlich würde es ihm auch jetzt wieder gelingen, die Wahrheit zu seinen Gunsten umzukehren – demonstrierte er mit seinem Handeln nicht den liebenden Vater, der ohne seine Kinder nicht leben konnte?

Was aber sollte ich tun? Wie reagieren? Was konnte ich überhaupt tun, was war angemessen? Was ergäbe sich, wenn ich nicht reagieren würde?

Ich ging zur deutschen Botschaft. Die Möglichkeiten, die sich für mich boten, waren natürlich beschränkt. Die Kinder waren als Ägypter ausgereist. Damit hatte er sich in Ägypten strafbar gemacht, denn per Gericht sollten die Kinder eigentlich bei mir leben. Deutsche Gerichtsbarkeit hatte jedoch keinen Einfluss, da alle Verfahren vor ägyptischen Gerichten verhandelt worden waren. Die zuständigen Sachbearbeiter in der deutschen Botschaft kannten meinen Fall gut und wussten, dass ich, trotz ägyptischen Gerichtsbescheids, die Kinder wegen all der Streitigkeiten, die vorgefallen waren, nicht hatte zu mir nehmen können. So bot man mir an, Sherif anzuschreiben und somit zumindest einen gewissen sozialen Druck auf ihn auszuüben. Mein Anwalt machte mir aber keine großen Hoffnungen in Bezug auf eine eventuelle Anklage. Die Dauer des Gerichtsverfahrens würde sich wahrscheinlich mit der geplanten Aufenthaltsdauer Sherifs im Jemen decken, die Kinder aber den Schrecken einer drohenden Wegnahme erleben. So verlief letztlich alles im Sande. Und wieder einmal blieb mir nichts anderes übrig, als die Ungewissheit zu akzeptieren, wann und unter welchen Umständen ich meine Kinder wieder sehen würde.

Wie immer half der Alltag, die quälende Realität der Trennung von meinen beiden kleinen Söhnen zu verdrängen – darin hatte ich ja inzwischen Übung. Ich war gerade erst von Ismailia nach Kairo gezogen, hatte zwar einen festen Patientenstamm als freie Krankengymnastin, aber davon hätte ich meinen Lebensunterhalt in Kairo mit zwei Jugendlichen und die Kosten für die Schule nicht bestreiten können. So war ich damit beschäftigt, meine Arbeit auszubauen und meinen beiden großen Kindern aus der ersten Ehe das Einleben in der neuen Umgebung zu erleichtern.
Besonders meine Tochter, sie war damals 13 Jahre alt, tat sich schwer. Sie hatte ihre beste Freundin in Ismailia zurück lassen müssen und fand nur schwer Anschluss an die anderen Mädchen hier in Kairo. Sie brauchte oft stundenlange Gespräche und eine Form von Zuspruch, den zu geben ich erst einmal nicht in der Lage war. Oft war ich froh, wenn mal wieder ein Tag vorbei war und ich abends einfach nur ins Bett fallen konnte. So ging das erste Jahr in Kairo vorüber.

Das Jahr 2001 begann mit einer Überraschung. Jemand "verfolgte" mich mit Anrufen bei Freunden, offensichtlich um Informationen über mein jetziges Leben zu bekommen. Eine Frau. Natürlich brauchte ich nicht lange, um herauszufinden, dass es sich nur um Noha, Sherifs Frau, handeln konnte. Waren sie in den Halbjahresferien zu Besuch in Ägypten? Sollte ich vielleicht die Möglichkeit haben, meine Kinder zu sehen? Ich war erschrocken und aufgeregt zugleich.

Gleich am nächsten Tag war ich an der Universität, und siehe da, Sherif war nach eineinhalb Jahren zurück! Er war höchst erstaunt, dass ich durch die Anrufe seiner Frau darauf gekommen war, dass er wieder im Land sei. Das gefiel ihm anscheinend gar nicht! Aber nach all den Jahren wusste ich auch, dass das auf Nohas Verhalten keinen Einfluss haben würde.

Bei einem daraufhin vereinbarten Treffen ging es so ruhig zu, als ob nie irgend etwas geschehen wäre und nichts zwischen uns liegen würde. Sherif zeigte sich von seiner besten Seite. Natürlich wäre es ja so wichtig, dass die Kinder Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hätten, ich könne jederzeit zu Besuch kommen, das hätte er ja schon immer gesagt! Er gab sich so, als ob ich diejenige wäre, die dieses so freundliche Angebot nicht in Anspruch nehmen und somit deutlich kein Interesse all den Kindern zeigen würde. Welch ein Hohn! Seine Einladung hörte sich so gut an, doch natürlich kam alles ganz anders.

Wir verabredeten ein Treffen bei ihnen zu Hause. Doch als ich mit meiner Tochter Fatima dorthin kam, standen wir vor verschlossenen Türen. Vom Hausmeister erfuhren wir, dass die Familie nach Ismailia gefahren sei. Ich kochte vor Wut. Nach all der Aufregung, meine Jungens nach so langer Zeit endlich wieder zu sehen, nun das! Sherifs Entschuldigung war mehr als dürftig. Er hätte mir ja Bescheid sagen wollen, aber meine Telefonnummer nicht gehabt...

Bis zum nächsten geplanten Treffen verging ein ganzer Monat. Doch auch daraus wurde wieder nichts. Also marschierte ich wieder einmal zur Universität, wo er jedoch leider gerade an diesem Tag nicht anwesend war. Dort, in seinem Fachbereich, war ich noch aus der Zeit unserer Ehe bekannt. Man schien über unsere Lage informiert zu sein, allerdings nur einseitig. Man erzählte mir, dass Sherif es so darstellte, dass ich die Kinder im Stich gelassen hätte. Natürlich verteidigte ich mich. Doch dies sollte mich teuer zu stehen kommen. Gleich am nächsten Tag (wie hatte er meine Telefonnummer nur so schnell herausfinden können?) rief er an und machte mir lautstark Vorwürfe, wie ich denn dazu käme, ihn an der Uni schlecht zu machen. Nun hatte er etwas gefunden! Es kam zu einem großen Krach. Der Streit endete damit, dass ich den Hörer mitten im Gespräch wütend auflegte.

Meine Wut war sehr groß, aber wie immer auch begleitet vorn Gefühl, dass ich wieder einmal versagt hatte. In ruhigen Momenten musste ich mir eingestehen, dass auch ich Fehler gemacht habe. So kämpfte ich auch noch mit Schuldgefühlen: habe nun ich etwas kaputtgemacht? Hätte ich an manchen Stellen geschickter handeln können? Woran jedoch hätte ich mich orientieren können?

Es wurde März. Ich hatte mir – zwei Jahre waren nun vergangen – fest vorgenommen, die Kinder noch in diesem Monat zu sehen. Mit all meinem Mut wollte ich am letzten Freitag des Monats zu ihnen nach Hause gehen. An diesem Wochenende hatten wir Besuch von der Cousine meiner großen Kinder aus der Familie meines ersten Mannes. Eigentlich war es mir gar nicht so recht, dass sie dabei war, denn nun fühlte ich mich von allen Seiten beobachtet. Doch mit ihrer Begleitung sollte der Besuch sogar viel besser klappen!

So standen wir an jenem Freitag vor erstaunten Gesichtern. Noha war so überrascht, dass sie uns sofort hereinließ. Wegen der Anwesenheit der ägyptischen Cousine war Noha plötzlich sehr nett, und sie zeigte sich als Gastgeberin von ihrer besten Seite.

Welch merkwürdiges Gefühl war es, meine beiden Kinder nach so langer Zeit wieder zu sehen! Es kam mir unwirklich vor wie in einem Film, der doch eigentlich nicht wahr sein konnte. Unvorstellbar, dass ich sie zwei Jahre nicht gesehen hatte! Und doch waren sie mir so vertraut. Natürlich hatten sie sich verändert, waren gewachsen und wirkten wie zwei richtige Lausbuben. Ich war überglücklich.

Die Begegnung verlief wunderbar. Noha war damit beschäftigt, die Cousine um den Finger zu wickeln, wohl in der Hoffnung, dass diese jedem weiterträgt, was für eine gute Stiefmutter sie doch sei. So hatte ich endlich etwas Zeit, mit meinen Buben allein zu sein. Wir waren im Nebenzimmer, schauten die Geschenke an, die ich mitgebracht hatte und unterhielten uns wie ganz normale Leute. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Doch dann bekam ich mit, dass sich der Bruder Sherifs ankündigte, um bei der Renovierung einer neuen Wohnung zu helfen. Als ich von dem Umzug erfuhr, der für die nächste Woche geplant war, wurde mir bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte. Nur wenig hatte gefehlt und ich hätte meine Kinder wieder mal suchen müssen...

Dem Bruder zu begegnen traute ich mir nicht zu, da ich nicht einschätzen konnte, wie dieser reagieren würde. Gerade als wir gehen wollten, kam er jedoch zur Tür herein und es gab kein Entkommen. Überraschenderweise war Tarek jedoch sehr nett und bestand darauf, einen Tee mit mir zu trinken. Noha war alles andere als begeistert, was ihn jedoch nicht im Geringsten störte. Wir unterhielten uns darüber, was in der Zwischenzeit alles so passiert war, natürlich auf Deutsch, so dass Noha noch ärgerlicher wurde. Da ich aber inzwischen einiges gelernt hatte, wollte ich den Bogen nicht überspannen, sondern gehen. Das war genug Gutes an einem Tag, kaum zu glauben und kaum zu verkraften.

Doch das Schönste sollte erst noch kommen! Tarek hatte nämlich die Idee, mir die neue Wohnung zu zeigen, damit ich jederzeit dorthin finden könnte. Außerdem hatte ich Sherif und Noha ein Hochbett für die Kinder angeboten, welches sie gut gebrauchen konnten. Yahya und Yassin sollten sich das Bett vorher anschauen, ob sie es überhaupt mögen würden. Ja, ich versuchte, die Kinder damit zu mir zu locken!

Sherif hielt sich in der unvorhergesehenen Situation dezent im Hintergrund, Nohas Blicke drohten alles zunichte zu machen. Aber Tarek hatte keine Probleme damit, Noha einfach zu übergehen. Wir würden also das Auto nehmen, zur neuen Wohnung fahren, anschließend zu mir, um das neue Bett anzuschauen – und das alles mit den Kindern! Welch ein Glückstag, es war fast zu viel für mich, und ich hatte Angst vor dem, was kommen könnte, um das alles wieder zu zerstören. Auf der anderen Seite wollte ich einfach nur den Moment genießen. Zu lange hatte ich verzichten müssen, nun wollte ich die Gunst der Stunde nutzen, egal was morgen sein würde. So fuhren wir los.

An unserer Haustür übergab ich Yahya, dem größeren der beiden, die Schlüssel zum Öffnen. Er war ganz berührt, und plötzlich keimte in mir der Gedanke auf, dass es vielleicht eines Tages, wenn auch noch in weiter Ferne, doch einmal eine gute Beziehung zu meinen Kinder geben kann. Wir verlebten eine schöne Stunde, bis Noha anrief und "besorgt" nach den Kindern fragte.

Von diesem Tag an kamen mit Tareks Hilfe einige Treffen zustande. Wir verabredeten, dass die Kinder einen Freitag im Monat zu mir kommen sollten. Tarek würde sie abholen, zu mir und auch wieder zurück bringen. Aber schon beim ersten Treffen machte Yahya einen Rückzieher, er weigerte sich schlicht, mitzukommen. Von Tarek erfuhr ich, dass Sherif und Noha hart miteinander über die Besuchsregelung stritten. Ich bin überzeugt davon, dass Yahyas Reaktion damit zusammenhing. Ich bin sicher, dass er sich dem ungeheuren Druck nicht entziehen konnte, oder es lastete bereits die Furcht vor dem auf ihm, was auf ihn zukommen würde, wenn er sich Noha gegenüber nicht loyal verhielt.

Yassin jedoch kam mit seinem Onkel und schien keine Schwierigkeiten zu haben. Er fühlte sich sichtlich wohl und war neugierig zu sehen, wie wir lebten. Yahya ließ sich dagegen nicht überreden, und so versuchten wir einmal, gegen seinen Willen eine Begegnung durchzusetzen. Ich hatte die Hoffnung, dass er sich schon beruhigen würde, wenn er erst mal bei uns wäre. Außerdem war er ja groß genug, um zu verstehen, dass es sich nur um ein paar Stunden handelte. Sherif, der sich damit sogar einmal gegen Noha durchsetzte, brachte Yahya dann tatsächlich, wenn auch gegen seinen Willen.

Nun bekam ich durch ihn selbst zu spüren, wie die Zeit und die konsequente Beeinflussung durch Noha unsere Mutter-Kind-Beziehung schon angegriffen und beschädigt hatte. Yahya blieb den ganzen Nachmittag über sehr wütend, teilweise sogar aggressiv. Er trank nur etwas Wasser, aß nichts und versuchte sogar wegzulaufen. Der einzige, der an diesem Tag mit ihm umgehen konnte, war Ahmed, mein großer Sohn. Die beiden, die sonst mit ihren aggressiven Reaktionsweisen immer aufeinander gestoßen waren, konnten nun zeitweise ganz entspannt miteinander reden. Sie hatten sich lange nicht gesehen, weil Ahmed sich schon einige Zeit zurückgezogen hatte – er war nicht mehr bereit, das Theater um die Besuche mitzumachen.

Dieser Tag ist mir noch immer in schrecklichster Erinnerung. Und doch glaube ich, dass auch etwas Gutes geschah. Denn endlich einmal kamen Vorwürfe ans Licht, über die sonst nicht gesprochen wurde. So warf mir Yahya vor, die Familie böswillig verlassen zu haben, sein Vater habe "doch nur eine zweite Frau geheiratet". Das erschien ihm offensichtlich nicht merkwürdig oder fremd. Er zeigte sich sehr erstaunt, als ich ihm darauf sagte, dass es keiner Frau gefallen würde, wenn der Mann eine andere dazu heirate. Er solle doch mal Noha fragen, ob ihr das gefallen würde. Dieser Gedanke schien ihn offensichtlich zu verwirren.

Und nun erfuhr ich auch erstmals davon, welche Bilder sich als scheinbare Realität in seinem Kopf festgesetzt hatten: er meinte, dass wir alle (Sherif, Noha, ich und alle Kinder) zusammen gelebt hätten und ich sie dann über Nacht – mit Spielzeug und Geld und meinen beiden größeren Kindern – verlassen hätte; nicht nur das, auch die Wohnung hätte ich zuvor noch zerstört. Was sollte ich darauf erwidern, ohne seinen Vater oder Noha als "Lügner" hinzustellen, wie hätte ich ihm in einer solch gespannten Situation, in der er voller emotionaler Abwehr war, etwas von der Wahrheit vermitteln können?

Mein Glück über die trotzdem hoffnungsvolle Besuchssituation war nicht von langer Dauer. Jedes Mal, wenn Yassin von einem Besuch nach Hause kam, empfing ihn Noha strafend. Mal sprach sie nicht mit ihm, übersah ihn einfach, mal machte sie ihm kein Abendbrot, oder aber sie schimpfte heftig mit ihm wegen irgendeiner Kleinigkeit. Dies erfuhr ich von Tarek. Er verriet mir, dass Sherif mit Noha sogar um dieses Verhalten stritt und es nicht guthieß. Ich war sehr erstaunt das zu hören und hoffte, dass sich endlich etwas zum Guten wenden würde. Aber am Ende behielt doch wieder Noha die Oberhand. Nun veränderte sich auch Yassins Verhalten, auch er konnte dem Druck nicht mehr standhalten. Mir nahm es jedes Mal vor Schmerz den Atem, wenn ich merkte, wie sehr er leiden musste.

Wieder einmal fühlte ich mich unendlich hilflos und zum ersten Mal fühlte ich mich als Ausländerin allein gelassen. Während ich zuvor bei allen Schwierigkeiten immer auf die Hilfe von ägyptischen Freunden bauen konnte, blieb sie dieses Mal aus. Denn diese Art von Unterstützung wird in Ägypten nur von der eigenen Familie geleistet, und die ist in meinem Fall ja in Deutschland. Da sich der Ort der Auseinandersetzung in den häuslichen Bereich von Sherifs neuer Familie verlagerte, fühlten meine Freunde eine gewisse Hemmung. Es schien ein Tabu zu geben, nach dem man eine gewisse Höflichkeit und Distanz nicht unterschreiten darf, da man in dem anderen Haus nur Gast ist. Doch damit lässt sich keine Auseinandersetzung um die Kinder führen. Immerhin boten sich einige deutsche Freunde an, mich zumindest zu den Besuchen einfach nur zu begleiten.

Gesetzlich ist das Besuchsrecht so geregelt, dass der getrennt lebende Elternteil die Kinder in Anwesenheit des anderen Elternteils (wenn auch in einiger räumlicher Entfernung) in einem öffentlichen Park einmal in der Woche für zwei Stunden treffen kann. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Kinder auf einer Polizeistation zu sehen. Diese beiden Alternativen gelten dann, wenn sich die Eltern nicht einigen können.
Das Sorgerecht nach einer Scheidung wird in einen mütterlichen Teil, der die tatsächliche Personenfürsorge umfasst, und einen väterlichen Teil, der die gesetzliche Vertretung wahrnimmt, unterteilt. Der Mutter obliegt die Pflege der Kinder, während dem Vater die Vermögensverwaltung, die Schulauswahl und das Aufenthaltsbestimmungsrecht zufallen. Außerdem muss er für den Unterhalt der Kinder aufkommen.

Die tatsächliche Personenfürsorge, die ich damals nach der Scheidung vor Gericht erkämpft hatte, kann 2002 von Sherif für Yahya bereits beantragt werden. Denn für Jungen ist die Altersgrenze bei 10 Jahren angesetzt, während Mädchen bis zum 15. Lebensjahr meistens der Mutter zugesprochen werden. Nach diesen Altersgrenzen kann der Vater beantragen, dass die Kinder bei ihm leben sollen. In diesem Falle werden die Kinder während eines Gerichtsverfahrens angehört und sollen aussagen, bei welchem Elternteil sie fortan leben möchten. Inwieweit das Gericht automatisch oder nur unter Umständen die Aussage der Kinder im Urteil berücksichtigt, ist mir nicht bekannt. Für eine Ausländerin, die keine Muslimin ist, kann es Schwierigkeiten geben, die Kinder zu behalten, da der Mann argumentieren kann, dass die religiöse Erziehung der Kinder nicht genügend gewährleistet ist.

Die praktische Seite sieht jedoch nicht ganz so einfach aus. Die Unterhaltszahlungen des Vaters der Kinder an die Frau reichen in den meisten Fällen nicht zum Überleben. Selbst wenn genug Geld vorhanden ist, werden oft (wie überall auf der Welt) Schleichwege gefunden, um die Zahlungen niedrig zu halten. In dieser Situation hat eine Ägypterin meistens eine Familie im Hintergrund, die sie unterstützen kann, wir Ausländerinnen nicht.
Häufig muss die Frau arbeiten gehen, was für eine Ausländerin vielleicht nicht das Problem ist. Allerdings bewegt sie sich meist in der Illegalität, da es nur für einige Berufe einfach ist, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Außerdem, wer kümmert sich während der Arbeitszeit um die Kinder? Den hiesigen Haushaltshilfen überlässt man nicht gern einen großen Teil der Kindererziehung.

Von verschiedenen Seiten wurde mir die Lösung "Kindesentzug" mit ausgearbeitetem Fluchtplan vorgeschlagen. Es scheint in der deutschen Community eine akzeptable Lösung zu sein, während jeder ägyptische Vater im umgekehrten Fall deswegen aufs Schärfste verurteilt wird.

Ich mochte diesen Weg nicht wählen. Für mich kann Kindesentzug, von welcher Seite aus auch immer, nur im Extremfall die letzte der Möglichkeiten sein. Allerdings ist es für alle Beteiligten in einer binationalen Familie sehr schwierig, eine passende Lösung zu finden. Dieser Problematik sollte man sich bewusst sein, wenn man eine binationale Ehe eingeht. Der Idealfall wäre der, dass bereits im Ehevertrag eine Regelung über den Verbleib der Kinder nach einer Trennung enthalten ist.

Heute sehe ich meine Kinder, die inzwischen 9 und 10 Jahre alt sind, regelmäßig. Nichts daran ist jedoch befriedigend. Ich besuche sie in ihrem Haus, Noha ist immer anwesend, manchmal ist auch Sherif dabei. Wenn ich mit ihnen telefoniere, werden die Gespräche mitgehört. Wir haben keinerlei Privatsphäre.

Bin ich dort bei ihnen, habe ich das Gefühl, eine Tante oder eine Freundin der Familie zu sein. Noha ist mittlerweile sehr freundlich – als ob ich ihre persönliche Freundin sei. Als Sherif für zwei Monate außerhalb Kairos arbeiten musste, durfte ich sie und die Kinder sogar in einen der Kairoer Vergnügungsparks ausführen. So komme ich dann auch mal zu Fotos von den Kindern, voll denen ich wieder etwas zehren kann.

Ansonsten kostet mich jeder dieser Besuche eine unvorstellbare Menge Kraft. Noha verteilt gern Hiebe unter der Gürtellinie. Ich darf mich nicht dagegen wehren, da es dann zu einer offenen Auseinandersetzung kommen würde. Vermutlich will sie das provozieren.

Manchmal ziehe ich mich für mehrere Wochen zurück – ich schaffe es einfach nicht, dorthin zu gehen und mich aufs Neue und immer wieder verletzen zu lassen. Dann mag ich nicht einmal meine Kinder mehr sehen – schlimm, sich das als Mutter eingestehen zu müssen. Aber es ist so.

Ich kann sie nicht an meinem Leben teilhaben lassen, ich kann ihnen in dieser Umgebung und in diesem Rahmen nichts von meinen Werten und Einstellungen vermitteln. Wir unterhalten uns auf Arabisch, die deutsche Sprache ist ihnen verloren gegangen. Ich hoffe zwar darauf, dass wir uns später auch auf Englisch unterhalten können, aber das wird noch Jahre dauern. Die Sprachbarriere erlebe ich als sehr negativ. Obwohl ich einigermaßen Arabisch spreche, fühle ich mich im Gespräch oft unterlegen. Meine Persönlichkeit muss ihnen als verzerrtes Bild erscheinen. Manchmal lasse ich meine Tochter bei Dingen, die mir wichtig erscheinen, übersetzen. Aber es ist nicht sehr befriedigend, wenn man Hilfe in Anspruch nehmen muss.

Heute ist meine Hoffnung durch die Umstände und das, was ich beeinflussen kann, ziemlich klein, dann aber gibt es wieder Lichtblicke. So hat mir das Gespräch mit einer Verhaltensbiologin sehr geholfen. Für die Kinder beginne jetzt die Phase der unabhängigen Meinungsbildung, wobei sie ein ganz feines Gespür für die Wahrheit und die Motivation, aus der die Erwachsenen handeln, besäßen. Sie würden nun beginnen, sich ihre eigenen Gedanken zu machen und zu vergleichen. Nun sei es wichtig, Kontinuität zu bieten und durchzuhalten. Die Kinder würden nun Erklärungen über die Handlungen der Erwachsenen einfordern. Kompromisse, die für das Kind gerecht sind und dadurch aber vielleicht weit von dem entfernt liegen, was wir als Erwachsene als Kompromiss verstehen, müssten angeboten werden.

Das macht mir Hoffnung, auch wenn ich mich manchmal frage, auf was sich diese eigentlich noch bezieht. Eine ganz normale Mutter-Kind-Beziehung zu haben erscheint mir nicht mehr möglich. Wenn ich nur daran denke, dass meine Kinder, wenn sie leiden und sich ihre Mutter herbeiwünschen, an eine andere Person als mich denken, ist es mir, als ob sich eine Faust in meinen Magen gräbt.

Doch was macht eine "Mutter" aus, lässt sich da noch etwas für später aufheben? Wenn nicht, wird dann eine Freundschaft zwischen uns möglich sein? Wenn uns die gelänge, dann möchte ich natürlich die Eine, die ganz besondere Freundin sein. Die, zu der man geht, wenn man jemanden braucht, die einen auffängt, tröstet und wieder aufrichtet, stark macht fürs Leben. Eben doch eigentlich eine Mutter?

Ich darf nicht daran denken, wie groß die Entfremdung zwischen uns schon ist und welche Chancen ich tatsächlich mit meinen Kindern noch habe. Manchmal resigniere ich und denke daran, den Kontakt zu meinen beiden jüngeren Kindern vollkommen abzubrechen, weil das Aussichtslose zu übermächtig und die Schmerzen zu groß sind. Im nächsten Moment ergreife ich jeden Hoffnungsschimmer und vertraue darauf, dass bei meinen beiden Söhnen etwas von unserer natürlichen Beziehung erhalten geblieben ist und sie eines Tages beginnen, kritisch zu denken. Ich hoffe, dass sie sich irgendwann auf die Suche nach einer anderen Wahrheit machen.

(Zu den rechtlichen Absicherungsmöglichkeiten der ausländischen Frau – soweit lösbar – siehe vor allem auch den Beitrag "Das schlimmste war der Ehevertrag..." derselben Autorin –Anm. KFN.)

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt Punkt Punkt

 

 

Persönliche Betrachtungen über das Wesen Ehe und binationale Ehen
von Ulla Hassan

Papyrus-Logo Nr. 3—4/1994, pp. 23—24

Schon seit meiner Teenagerzeit beschäftigt mich das Thema Ehe und Familie. Für mich sind die Berufe 'Ehepartner' und 'Elternteil' mit die schwersten; denn es gilt, der zukünftigen Generation das erforderliche Rüstzeug für ein menschenwürdiges Leben mitzugeben. Vor dieser Aufgabe hatte ich großen Respekt, was dazu führte, daß ich erst sehr spät heiratete und Mutter wurde. Nun hoffe ich, daß ich meine Aufgabe zufriedenstellend meistere.

Während meiner langjährigen Tätigkeit als Sozialarbeiterin in der Familienfürsorge in Berlin boten sich mir die vielfältigsten Möglichkeiten, mich mit unserem Thema auseinanderzusetzen, und ich konnte viele Erfahrungen sammeln. Unserem Freundeskreis in Berlin und hier gehörten und gehören viele binationale Paare an (nicht nur deutsch-ägyptische). In diesem Kreis wurden natürlich auch persönliche Erfahrungen ausgetauscht. Anläßlich unseres PAPYRUS-Vorhabens, zum Thema binationale Ehe zu recherchieren, fand kürzlich ein Erfahrungsaustausch statt. Bei allen Gesprächen stellte sich immer wieder heraus, daß das 'binationale' eigentlich erst an zweiter Stelle rangiert. Vorrangig ist die Gestaltung und Stabilisierung der Partner- und Familienbeziehungen. Und dies gilt für alle Ehen in allen Ländern dieser Erde.

Benutzen wir die anderen 'kulturellen' Eigenarten in Konfliktsituationen nicht oft als Vorwand, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken? Wenn ich ehrlich mit mir bin, ertappe ich mich oft dabei.

Ich vergleiche eine Ehe und Familie mit einem Garten, in dem man ständig weiterarbeiten muß, – hier etwas ausbessern, dort verschönern, erneuern und ergänzen, – wenn man darin Freude erleben möchte. Ein Garten, den man nur benutzt, also konsumierst, ohne ihn zu hegen und zu pflegen, wird verwildern.

Jede Ehe ist ein Risiko, weil niemand vollkommen ist und wir alle ständigen Entwicklungen unterliegen. Jeder Partner bringt in diese Lebensgemeinschaft seine eigene Geschichte (Sozialisation) mit ein, die auf dem gemeinsamen Lebensweg im Positiven wie im Negativen weiterwirkt. In jeder zwischenmenschlichen Beziehung müssen die dualen Gegebenheiten wie z.B. Gelten und Geltenlassen – Geben und Nehmen – Nähe und Autonomie – ausbalanciert werden, wenn wir uns wohlfühlen wollen. Es kommt auf die individuellen Fähigkeiten der Partner an, ob und wie dieses Ziel erreicht wird.

Damit eine Ehe und Familie so gestaltet werden kann, daß sich jeder einbringen und wohlfühlen kann, ist das Vorhandensein von Zuneigung, Verständnisbereitschaft, Vertrauen, Glaubwürdigkeit und auch Bereitschaft, sich selbst und sein Wertsystem in Frage zu stellen, erforderlich. Dies gilt sowohl für die nationale wie für die binationale Ehe und Familie.

Für mich ist es eigentlich sehr verwunderlich, daß erst in den letzten Jahren die binationale Ehe durch die Medien mehr in unser Bewußtsein gerückt wird, denn es gibt sie seit Menschengedenken. In den herrschenden Klassen wurden solche Ehen oftmals aus dynastischen und machtpolitischen Gründen geschlossen. – Auch wenn man die Märchen und Sagen aus aller Welt miteinander vergleicht, stellt man fest, daß es überall, in allen Ländern binationale Ehen gab, und daß es in den überwiegenden Fällen die Frauen waren, die den Männern in ihr Land folgten.

Abgesehen von den binationalen Zweck-Ehen, aus dynastischen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen, die es auch heute gibt, erfolgte die Partnerwahl für eine Ehe als Lebensgemeinschaft von den Ehegatten sicher nicht aus nationalen Beweggründen, sondern orientierte sich ausschließlich an deren Persönlichkeit. Es besteht aber für mich Grund zu der Annahme, daß Männer oder Frauen, die eine binationale Ehe eingehen, aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur offener sind, die 'andere' Kultur an sich herankommen zu lassen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Bei unseren Recherchen stellte sich mir immer wieder die Frage, was ist eigentlich mit Kultur gemeint? Was wollen wir damit ausdrücken? Durch Was und gegen Wen wollen wir uns abgrenzen?

In dem Buch von Mohamed Abou-Zaid: "Omar Khayyam – Schöner als die Wildnis kann kein Paradies sein" fand ich zu dieser Frage eine von mir nachempfundene Erläuterung. Er meint, daß es seit Weltenanfang nur eine Menschheit gäbe, deren Kultur in den geographischen Gegebenheiten zu suchen sei, und daß jedes Volk an der Entwicklung der Menschheitskultur das Seine getan habe.

Auch unser lieber guter alter Goethe hatte zu diesem Thema etwas zu sagen:

Wer sich selbst und andere kennt,
wird auch hier erkennen,
Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.

Punkt  Punkt

 
Leserbrief zu "Persönliche Betrachtungen"
von Margarete Hablas
Papyrus-Logo Nr. 5—6/1994, p. 83

Jede Ehe ist ein Risiko. Das ist wahr, aber das Risiko ist erstmal unübersehbar, wenn man einen Partner aus einem fremden Kulturkreis heiratet. Die europäische Ehefrau (hauptsächlich sind es ja Frauen, die ins Ausland heiraten) hat so gut wie keine Ahnung, in welchem Denkmodell der zukünftige Ehemann aufgewachsen ist und daraus folgend, was seine Werte sind. Wann wird es sensibel? Wann wird es für den Partner unverständlich d.h. ein Ärgernis, was für den anderen selbstverständlich ist? Wird er versuchen zum Gelingen der Ehe beizutragen? Der morgenländische Ehemann geht mit anderen Voraussetzungen in eine Ehe. Kennt sie seine Erwartungen an die Ehe? So etwas kann man einfach nicht voraussehen, wenn sie, selber aus einem "freien" Land kommend, sich in einem orthodoxen Land einleben muß. Das ist schwerer als umgekehrt.

Das tägliche Leben im fremden Land mit – ich sage es mit voller Absicht – mit "fremden" Menschen sollte man nicht so einfach darstellen, das wäre irreführend. Es genügt nicht "Den Garten zu pflegen", dazu gehören zwei. Was hilft es, wenn der eine den Garten pflegt und der andere die wohlbehüteten Pflänzchen ausreißt, weil er eine andere Vorstellung von seinem Garten hat.....

"Was ist Kultur? Durch was und gegen wen wollen wir uns abgrenzen?" Nun, WIR wollen uns nicht abgrenzen, denn das ist geographisch und lange vor uns seit Jahrhunderten schon geschehen. Jedes Volk hat seine eigene Lebensweise, seine Sitten und Gebräuche. Das sollte man nicht mit einer Handbewegung vereinfachen, denn das wäre Intoleranz in reinster Form. Die Menschen sind durch ihre Herkunft nun mal nicht gleich. Man sollte vielmehr das "Andere" so respektieren, wie es ist, dort fängt die eigentliche Toleranz an. Man kann sich auch nicht angleichen, denn dann würde man sich selber verlieren und gäbe als Imitation von etwas, in das man nicht hineingeboren ist, der kommenden Generation schlechtes Rüstzeug mit.

Bestimmt haben Mohamed Abou Zaid und Goethe bei ihren weisen Aussprüchen nicht an Eheschließungen – d.h. Einswerden mit dem Anderen – gedacht.

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt Punkt Punkt

 

 

Beate trifft Mahmud, Anne ist unzufrieden mit Ahmed,
Eva und Ali gehen ihre Probleme an...

von Baraka Maatwk

Papyrus-Logo Nr. 3—4/1999, pp. 43—45

Sonnenuntergang am Nil, oder am Strand von Hurghada, oder in den Bergen des Sinai. Dazu zwei wunderschöne braune Augen mit diesem gewissen Feuer, das das bekannte Kribbeln im Bauch auslöst. Vielleicht fing es so an. Vielleicht begann es aber auch beim Bolle Supermarkt, als 20 Maisdosen vom Stapel fielen und ausgerechnet Ali aus Kairo dahinterstand. Wie dem auch gewesen sein mag, weder der Sonnenuntergang, noch 1.000 Maiskörner verleiten zur Ehe. Bei der Partnerwahl sind sehr sensible Antennen am Werk, die aus möglichen Partnern den Einen heraussuchen. Den Einen, der uns zunächst mit seinen attraktiven Eigenschaften magisch anzieht und der uns dann mit genau diesen Eigenschaften das Leben schwer macht. Unweigerlich sieht man sich bei einer der Talfahrten im Ehetagebuch vor die Frage gestellt: warum mußte ich ausgerechnet auf diese Person hereinfallen?

Ehepsychologen meinen: "Es ist eine bekannte Tatsache, daß jene Eigenschaften, von denen die Partner nach ihren eigenen Angaben anfangs gegenseitig angezogen wurden, im allgemeinen die gleichen sind, die sich später als Konfliktquellen erweisen." Handelt es sich um eine binationale Ehe, neigt man gern dazu, sich in Begriffe wie verschiedene Kulturkreise und dadurch unterschiedliche Mentalitäten zu flüchten.

Beate über Mahmud: "Es war so toll am Anfang. Er hat mich in einer Art und Weise umworben, die einfach phantastisch war. Er verwöhnte mich total, brachte immer etwas mit, fuhr mich überall hin, war mein ständiger Begleiter. Er zeigte wirklich Interesse, was mir bis dahin völlig unbekannt war. Doch jetzt nach 5 Jahren macht er mich wahnsinnig. Ich fühle mich beobachtet und unter ständiger Kontrolle." Anna über Ahmed: "In seiner Familie herrschte das totale Chaos, doch Ahmed blieb trotzdem immer frohgelaunt und optimistisch. Er war einfach nicht aus der Ruhe zu bringen. Heute nach 8 Jahren empfinde ich seine Ruhe als Unreife. Nie kommt er mit eigenen Vorschlägen, er schlängelt sich so durch und überläßt es mir."

Man könnte nun Beates Probleme darauf reduzieren, daß sie als emanzipierte westlich erzogene Frau mit den 'Machovorstellungen' eines orientalischen Mannes nicht klarkommt. Und bei Anna ließe sich sagen, daß sie Schwierigkeiten mit der ägyptischen Vogel-Strauß-Politik hat, nämlich einer direkten Konfrontation so lange wie möglich aus dem Weg zu geben. So läge das Problem – wie günstig – immer beim Partner.

Doch leider beuteln uns da die Ehepsychologen mit einem Erfahrungswert von 50%. Die Partner bringen sich zu gleichen Teilen ein, und beteiligen sich auch am Konflikt zu jeweils der Hälfte. Damit erübrigt sich zugleich die Frage der Schuldzuweisung, es gibt weder Opfer noch Täter. Jeder Partner bringt immer seine gesamte, sogar über Generationen ererbte Familiengeschichte mit in die Ehe. Je mehr unbewältigte Probleme in der Herkunftsfamilie festgefahren sind, desto mehr Konfliktstoff wird eingebracht. Dieser unbewältigte Konfliktstoff ist es, der wie eine Suchantenne funktioniert und genau den Partner ausfindig macht, der den gleichen Grundkonflikt in sich trägt.

Eva und Ali. Seit über 8 Jahren verheiratet, seit zwei Jahren im ständigen Clinch über die liebe Schwiegermutter. Eva ist Geschichtsdozentin, Ali Computeringenieur. Sie lebten die ersten drei Jahre in Deutschland, danach zwei Jahre in Amerika und nun seit drei Jahren in Kairo. Eva kommt aus einer gutsituierten Familie im Norden Deutschlands. In ihrem Elternhaus wurde viel Wert auf Selbständigkeit gelegt. Die Kinder hatten im angemessenen Alter das Elternhaus zu verlassen und mußten auf eigenen Füßen stehen und sich bewähren. Dies also ganz konträr zu ägyptischer Familienstruktur, wo Zusammenhalt und Beisammensein der Familie große Bedeutung beigemessen wird. Eva fühlte sich anfangs sehr zu Alis großer lebhafter Familie hingezogen und hatte eher negative Gefühle zu der Unverbindlichkeit in ihrer eigenen Familie. Ali dagegen empfand das hohe Maß an Nähe und Emotionalität seiner Familie als erdrückend und verliebte sich prompt in Evas kühle Ausstrahlung und ihr ruhiges Selbstvertrauen.

In den ersten anderthalb Jahren ging es einigermaßen gut, doch die Situation begann zu eskalieren, als Alis Mutter zu kränkeln anfing. Ali mußte natürlich dementsprechend ständig in der Familie präsent sein, während Eva, trotz allem Verständnisses für die arme Schwiegermutter, damit gar nicht klar kam. In ihrer Familie wäre es ganz anders gehandhabt worden. Sie warf ihm nun vor, zu sehr an der Familie zu kleben, und auch die Ansprüche von seiten der Familie waren für sie übersteigert. Er hätte sich nicht genug abgenabelt. Ali währenddessen litt unter Schuldgefühlen, da er sich sowieso schon immer der Familie entzogen hatte (z.B. Auslandsaufenthalte) und empfand Eva als überkritisch, zu kühl und verständnislos für sein Problem. Der Kreislauf schloß sich. Erst in Streßsituationen kommen verletzte Gefühle an die Oberfläche.

Die anfängliche Anziehungskraft negativierte sich und stellt heute die Konfliktquelle dar. Beide haben für sich selbst kein ausgewogenes Nähe- und Distanzverhältnis zur eigenen Herkunftsfamilie. Beide hatten ihre Familienstrukturen mitgelebt und gehofft, durch den anderen ausbrechen zu können.

Der gemeinsame Grundkonflikt wird in verschiedenen Verhaltensrollen ausgetragen, was den Eindruck entstehen läßt, daß der eine Partner geradezu das Gegenteil des anderen ist. Es handelt sich dabei aber lediglich um polarisierte Varianten des Gleichen. Jeder verkörpert in seinem Verhalten das, was der andere als eigene Verhaltensmöglichkeiten verdrängt. Darum erscheinen Eigenschaften anfänglich als positiv anziehend, da sie wie Erlösungsmöglichkeiten wirken, später jedoch als negativ, da die Erlösung nämlich nicht eintritt.

Um den Kreislauf zu durchbrechen mußte sich nun jeder auf sich selbst besinnen, und nicht versuchen, den anderen in seine erlernte Struktur einzubinden. Eva fing an, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen. In ihrem Falle bedeutete es, sich ihrer eigenen Familie anzunähern, was kein leichtes Unterfangen war, denn ihre Mitglieder reagierten zunächst kühl, und es bedurfte einiges an wirklichem Selbstvertrauen, den Weg weiterzugehen. Für Ali war es eine harte Aufgabe, einen für sich passenden Standpunkt in seiner Familie zu finden, wenn diese ihn zu sehr vereinnahmen wollte. Aber es war sein eigener und nicht Evas. In dem Moment, in dem sich jeder auf sich selbst konzentrierte, wuchsen gegenseitiges Verständnis und Toleranz. Der Konfliktknoten lockerte sich

Man hätte nun die Probleme auch ganz einfach auf unterschiedliche Kulturkreise zurückführen können.

Wieviel einfacher wäre das doch! Und den ach so unangenehmen Blick in den Spiegel könnte man sich sparen. Es ist ja nun mal so, daß einzelne Völker unterschiedliche Wertmaßstäbe anlegen. So ist es in China sehr stark verpönt, unhöflich zu sein, für uns würde dies an Heuchelei grenzen, während man sich in Amerika gern die nackte Wahrheit ins Gesicht sagt. Doch man sollte vorsichtig sein bei zu groben Verallgemeinerungen: die Engländer sind kühl-distanziert und die Italiener herzlich-temperamentvoll. Wird nicht auch den Süddeutschen ein herzliches und den Norddeutschen ein kühles Verhalten nachgesagt? So kann es also passieren, daß Karin aus Kiel mit ihrem Peter aus Freiburg die gleichen Probleme hätte wie Eva mit ihrem Ali.

Die Frage ist also nicht: warum bin ich ausgerechnet auf diese Person hereingefallen, sondern: warum fallen wir beide über den gleichen Stein, wo es im Leben doch so viele verschiedene Stolpersteine gibt?

Um eine umfassende Antwort auf diese Frage des Warum zu finden, muß man die Geschichte der Herkunftsfamilie betrachten. Dies läßt sich sehr gut anhand von Genogrammen tun.

Genogramme zeichnen in grafischer Form Informationen über drei Generationen einer Familie auf. Konflikte wiederholen sich von Generation zu Generation, bis ein Mitglied es schafft, sie aufzulösen oder zumindest Anregung dazu gibt.

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt Punkt Punkt

 

 

Religionsverschiedene Ehen
von Dr. Christiane Paulus
in 2 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 3—4/2000, pp. 23—28

Von den sogenannten Mischehen soll in diesem Artikel einmal wieder die Rede sein. Die Häufigkeit, mit der dieses Thema in Papyrus auftaucht, zeigt ein gewisses Interesse und dies nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch darüber hinaus. Offensichtlich liegt dies daran, daß diese Ehen einen Modellcharakter besitzen für das Zusammenleben zweier Kulturen, Religionen oder Ethnien. Im Gegensatz zu bestehenden politischen, kirchlichen bzw. religiös institutionalisierten Beziehungen geht es hier mehr ums Eingemachte – u.U. im wahrsten Sinne des Wortes! Während man nach einer offiziellen Dialogsitzung o.ä. wieder auseinandergeht, bleiben die Ehepartner natürlich zusammen, denn sie leben zusammen, haben Kinder und einen gemeinsamen Alltag. Die gemeinsame Alltagspraxis und die Erziehung der Kinder sind die elementaren Komponenten, an denen sich die Beziehung bewähren muß, soll die Ehe gelingen.
Viele dieser Ehen gelingen nicht, wobei laut IAF (Anm. 1) die offizielle Scheidungsrate der binationalen ebenso hoch ist wie die der anderen Ehen. Die Partner leben nicht auf einer Insel, sondern ihre Lebenswelt ist eingebunden in die heutige Komplexität von Kultur und Gesellschaft. Tiefsitzende Feindbilder und Ängste vor der jeweils anderen Kultur erschweren einem jeden Paar ein leichtes, unmittelbares Glück. Die große Skepsis, die gegenüber den sogenannten Mischehen immer fort besteht, hat hierin vielleicht doch einen Grund. Denn ein verhältnismäßig hoher Anspruch wird an die Partner gestellt: nicht nur die Bereitschaft, sich mit einer anderen Kultur und eventuell auch einer anderen Religion auseinanderzusetzen, auch eine Befähigung dazu ist vonnöten.

Die bisherige Auffassung von Ehe ist sehr geprägt von dem Begriff der Gemeinsamkeit, Differenzen werden dagegen als problematisch für eine Ehe eingeschätzt. Auch wichtige soziologische Arbeiten gehen davon aus, daß eine Ehe im allgemeinen nur gelingen kann, sofern beide Partner zu einer "Erzählgemeinschaft" werden, d.h., daß sie ihre Anschauungen bezüglich ihres nun gemeinsamen lebensweltlichen Kontextes im Laufe der Zeit in Übereinstimmung bringen. Wie, so fragt sich man oder frau, kann dann eine kultur- oder religionsverschiedene Ehe eigentlich funktionieren? Denn hier sind Grundüberzeugungen verschieden und haben sich über Jahre hin nicht angepaßt, sondern sind gleich geblieben. In vielen Ehen hat sich das Bekenntnis zur eigenen Religion sogar verstärkt.
Überwiegend ist letztgenanntes Phänomen bei Frauen festzustellen. Auf der anderen Seite läßt sich bei vielen Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, ein Engagement für die andere Kultur und Religion entdecken, wie es zumindest im Vergleich den Männern fehlt. Warum lernen die Frauen die Sprache und Religion des Mannes, gestalten ihr Haus und ihren Alltag nach der Kultur des Mannes um, engagieren sich in der IAF?
Frauen sind anders als Männer, das wird seit einigen Jahren auch in der feministischen Theoriebildung wieder wahrgenommen. Und dieses Anderssein muß auch nicht mehr als Mangel gelten, so wie es die Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte aufgefaßt und verteidigt hatte.

Im Allgemeinen mangelt es wissenschaftlichen Arbeiten am Bezug zur realen Wirklichkeit derjenigen, über die geforscht wird. Oft wird auch bei akademischen Konferenzen zum genannten Themenkomplex der Interkulturalität eine tiefe Kluft empfunden zwischen der wissenschaftlichen Sicht und der Perspektive der Betroffenen. Das ist schade. Vielen wissenschaftlichen Zweigen ist diese Schwäche indes bewußt, und es wird versucht, Methoden zu entwickeln, diese Kluft zu vermeiden, von der Lebenserfahrung der Betreffenden nicht ad hoc zu abstrahieren, sondern mit einer "Sicht von unten" diese zu erfassen zu suchen. Nichtsdestoweniger bleibt Wissenschaft im Anschluß daran nun einmal abstrakt und hypothetisch, es geht ihr nun einmal nicht nur um die konkreten Menschen, sondern auch um das Allgemeine.

Die "Sicht von unten" läßt betroffene Partner selbst miteinander sprechen und stellt umsichtig interpretierend fest, daß sich Frauen und Männer schon auf formaler Ebene verschieden artikulieren. Männer geben sich bei biographischen Ausführungen sehr kontrolliert, bringen ihre theoretischen Überzeugungen zum Ausdruck. Ihre Selbstdarstellung bzw. ihre persönliche Identität wirkt daher fest und stabil. Frauen hingegen erzählen von ihren Erfahrungen freier, zeigen Brüche, Probleme und Ambivalenzen in ihren Biographien auf. Sie zeigen ihr Bemühen, richtig zu handeln, vor allem für die Familie. Die Darstellung des Selbst bleibt fragmentarisch, ihre persönliche Identität nicht fest geschlossen, sondern offen. Inhaltlich ist sie immer im Gegenüber zu den konkreten Personen der Familie bestimmt, bei den Männern im Gegenüber zu gesellschaftlichen, religiösen und moralischen Werten. In religionsverschiedenen Ehen scheint der Wunsch zur Konversion ausschließlich an die Frauen herangetragen zu werden, nie an einen Mann. Allein die Frauen ziehen die Möglichkeit, zur Religion des Partners zu konvertieren, in Erwägung, wohingegen die Männer erst gar nicht daran denken. Dies gilt auch für den seltenen Fall der Ehe einer Muslimin mit einem Christen, hier erwägt sie, zum Christentum zu konvertieren.
Die Frauen wehren den Wunsch des Ehepartners bzw. den Druck der größeren Familie zur Konversion sodann nicht einfach trotzig ab, sondern setzen sich mit großem Interesse existentiell mit der fremden Religion des Partners auseinander. Die Auseinandersetzung bewirkt bei den Frauen ein tiefes Kennenlernen der anderen Religion, und da sie ferner von einem religiösen Alltagsleben, von vielen Gesprächen mit dem Partner, begleitet wird, ein Verstehen derselben. Es ist erstaunlich zu sehen, daß viele Frauen nach diesem Prozeß nicht konvertieren, sondern ihre eigene Religion, ihr eigenes Bekenntnis bewahren. Die eigene Glaubensüberzeugung der Frauen hat sich in diesem Prozeß sogar verstärkt, ja bewährt. So sind hier zwei Momente miteinander verschränkt, die bisher als widerstrebend galten: das Vertrautwerden mit einer anderen Religion bei gleichzeitiger bewußter Stärkung der eigenen, angestammten religiösen Identität. Dieser Zusammenhang läßt sich mit dem Begriff der Bewährungsdynamik beschreiben: bewährt hat sich der eigene Glaube, verändert hat er sich gleichzeitig durch den positiven Zugang zur fremden Religion und Religiosität des Partners.

Die bestehende Auffassung von Identität ist von Verlustangst begleitet, Identität gilt als etwas, was man verwirken, in einem fremden Umfeld einbüßen könnte. Die Frage, wie weit man oder frau sich auf die andere Religion (oder auch Kultur) einlassen darf, ohne die eigene Identität zu verlieren, taucht immer wieder auf. Im pluralistischen Kontext des ausgehenden 20. Jahrhunderts bzw. in dem des neuen Jahrtausends scheint es nicht mehr sinnvoll, Identität als stabiles Ganzes, als ein mit sich selbst übereinstimmendes Ich zu definieren. Diese Definition produziert selbst die bestehenden Verlustängste, Identität speist sich aus Abgrenzung und wird zum Zwang. Der bürgerliche, aufgeklärte Subjektbegriff wird daher aufgegeben. Die obige Frage ist falsch gestellt. Das Ich ist nicht als identisch mit sich selbst, sondern als ein Ich in Beziehungen zu denken. Um wieviel mehr gilt dies, wenn die eigene Lebenswelt von anderen Kulturen oder Religionen geprägt ist und man oder frau mit Menschen anderer Religionen und Kulturen zusammen lebt. Die Identität besteht mit dem Einlassen auf das Fremde nur noch aus verschiedenen Fragmenten, hingegen schafft eine existentielle Auseinandersetzung bzw. das Verstehen des Fremden daraus Strukturen und führt zu einer "Patchwork-" oder "Netzwerkidentität". Diese ist nicht als Verlust, sondern als Gewinn zu verstehen! Es bedeutet, in mehreren Religionen, Kulturen oder Welten zu Hause zu sein, sich vertraut zu fühlen, Freunde zu haben oder verbunden zu sein.

M.E. ist die Selbstdarstellung oder die persönliche Identität der Männer immer noch sehr vom bürgerlichen Subjektbegriff geprägt, denn ihre Rede hat oft etwas Gezwungenes. Frauen scheint die Ausbildung einer Netzwerkidentität eher zu gelingen, sie zeigen Fragmente ihrer Biographie auf und verweisen auf die Entwicklung von Verbindungen. Das Vermögen, Verbindungen herzustellen, resultiert eben aus der weiblichen Beziehungsarbeit. Es geht hier um die "einfache" Gestaltung von Beziehungen, daran machen Frauen hauptsächlich ihre persönliche Identität fest. Sie gestalten das Haus und kümmern sich um den Gatten, die Eltern, die Kinder, die Großfamilie und die Freunde. Aus Liebe zur anderen und aus Liebe zur eigenen Kultur/Religion, die den obigen Verstehensprozeß impliziert, können sie ihr Vorhaben auch verwirklichen. Ihr Leben in beiden Religionen und Kulturen wird ganz deutlich an der religiösen Kindererziehung, ein konventioneller, ja traditioneller Bereich weiblicher Beziehungsarbeit.

In der Regel haben sich beide Partner zu Beginn der Ehe auf ein Konzept der religiösen Kindererziehung geeinigt. In der BRD gibt es zwei verschiedene Modelle in Variationen: einmal das Ziel, daß sich das Kind, sobald es religionsmündig ist, selbst für eine Religion entscheiden soll. Bis dahin sollen dem Kind beide Religionen, mehr oder weniger neutral, vermittelt werden. Zum Zweiten ist die klassische Festlegung des Kindes auf ein Bekenntnis gegeben. Für Muslime in Deutschland, die sich an die Sharia gebunden fühlen, kommt natürlich nur das letzte Modell in Betracht, wie es auch hier in Ägypten üblich ist, wo die Religion des Kindes der des Vaters folgt. Dieser Grund scheint ja auch ausschlaggebend für das Verbot der Heirat einer Muslimin mit einem Christen oder Juden.

Für den genannten Zusammenhang ist es nun wichtig zu sehen, daß bei allen Modellen in der Praxis die Frauen jeweils die gesamte religiöse Kindererziehung leisten, also die Erziehung in der anderen Religion des Partners auch noch übernehmen, denn die Männer kommen ihrer Aufgabe, ihre Religion den Kindern zu vermitteln, nicht nach, obschon sie sich selbst dazu verpflichtet fühlen. Die Frauen fordern die Väter oft dazu auf, da sie sich selbst eigentlich dazu nicht in der Lage fühlen. Letztendlich bewältigen sie die fremdreligiöse Erziehung aber doch, eben aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer Kenntnis der anderen Religion. Sie achten z.B. sehr darauf, daß ihre Kinder nicht mit Schweinefleisch und Alkohol in Berührung kommen und allgemein ein Wissen über die Religion des Mannes haben. Somit geben sich die Frauen sehr viel Mühe, die religiöse Identität ihrer Kinder in der Religion des Mannes auszubilden. Sofern dies gelingt, sind sie sehr stolz auf den Erfolg, wie ein Textausschnitt aus einem Interview zeigt:

Paula, Christin aus Spanien, und Tariq, Muslim aus Pakistan, sind seit 8 Jahren verheiratet.
Sie sind beide Migranten der 2. Generation, als Kinder in die BRD eingereist.
Die Erziehung der beiden Kinder soll islamisch sein, auch sonst bemüht sich Tariq um eine "islamische Lebensweise".
P. = Paula, T. = Tariq

T.: Ja, gut. Das ist ein Beispiel. Aber, (.) ja und solche Sachen, ich möchte schon klare ....ich sag' zum Beispiel meiner Tochter: Das ist ein christliches Fest und du weißt, wir sind Muslims. Aber Maria ist Christin und da kannst du hingehen und mit ihr feiern, gell. Da kannst du feiern mit ihr, hab' ich gesagt.
P.: Ja, sie sagt ja auch...
T.: Maria also ist die Oma mütterlicherseits, sie ist Christ...
P.: ...sie sagt ja auch die ganze Zeit, dann und dann ist Nikolaus und der Nikolaus bringt und so. Von unserem Nachbarn kriegen sie dann auch einen Stiefel und was weiß ich nicht alles. Von meiner Mutter vielleicht 'ne Kleinigkeit. Ich mein', sie freut sich, aber im gleichen Atemzug sagt sie ... dann guckt sie ihn an und sagt: Ich weiß ja, wir sind Muslime, aber trotzdem kriege ich was zum Nikolaus (lacht)! Oder auch an Weihnachten, denn sie freut sich natürlich, daß meine Mutter so'n Weihnachtsbaum dort hat.
T.: Die haben das auch zusammen aufgebaut.
P.: Das ist ja auch schön bunt und die haben das auch zusammen gemacht und dann sagt sie auch: Ja, ich weiß, daß wir Muslime sind und wir feiern Id aber trotzdem (lacht). Also, ich mein', sie weiß das schon!
T.: Also, ich find' es sehr gut, wie sie sich entwickelt hat. Ich bin da sehr glücklich darüber. Ich wünschte, daß das immer so bleibt. Also ich mein' schon, sie macht das sehr sehr gut mit. Auch meiner Schwiegermutter gebe ich auch nicht das Gefühl, daß ich die Kinder von ihr weg halte. Ich sag' immer zu ihr, wenn sie zu ihren Eltern gehen will, sie soll gehen. Ich sag', warum gehste nicht hin, geh' doch dort essen.

Letztendlich hat das Phänomen, daß, wie dieses Beispiel zeigt, eine christliche Mutter die islamische Erziehung ihrer Tochter übernimmt, seinen Grund im konventionellen Rollenverhalten. Kindererziehung allgemein ist bis heute immer noch Sache der Frauen, ganz unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung der Ehemänner. Paula ist selbst Christin, ihre Art der islamischen Erziehung ist daher nicht abgrenzend, sondern schließt die christliche "Welt", die von ihr und ihren Eltern repräsentiert wird, ein. Paulas Auseinandersetzung mit der muslimischen Religiosität ihres Mannes und mit dem Islam selbst (auch sie wurde gebeten zu konvertieren) hat sie zu einem solchen Verhalten befähigt. Aufgrund der Bewährungsdynamik, die bei ihr zu erkennen ist, kann sie den Muslimen und dem Islam angstfrei gegenübertreten. Sie braucht nichts zu verlieren, im Gegenteil, sie hat durch ihren positiven Bezug zum Islam eine "Welt" dazugewonnen, ohne die Differenzen aufzulösen oder zu verharmlosen. Zu ihrer eigenen Identität gehören nun die beiden Religionen, es handelt sich ja um den Glauben ihrer Familie, um deren Wohlergehen sie sich sorgt.
Als konventionell läßt sich dieses Verhalten nicht mehr bezeichnen. Aufgrund der Konstellation der religionsverschiedenen Ehe ereignet sich im Bereich konventioneller weiblicher Beziehungsarbeit etwas ganz Unkonventionelles. Aus der Bewährungsdynamik und der gelungenen Beziehung zum Fremdreligiösen ergibt sich wiederum eine neue interreligiöse Alltagspraxis für die Familie.

U.U. stellt sich der genannte Zusammenhang in Ägypten anders dar als in der BRD. Beobachtungen und ihre Interpretationen sind in jedem Fall kontextabhängig, die im Anschluß daran gebildeten Theorien bleiben hypothetisch, sind nie allgemeingültig, sondern haben bestimmte Reichweiten.
Gerade die Thematik der Kindererziehung mag sich in einem Land, in dem der Islam die Religion der Majorität ist, anders stellen. Denn hier können noch andere Institutionen wie etwa Großfamilie und Schule die religiöse Erziehung der Kinder übernehmen. Nichtsdestoweniger bleibt die religiöse Erziehung der Kinder zu Hause eine Aufgabe, und sei es allein die Organisation der religiösen Kindererziehung, die auch in der BRD zu der Arbeit der Frauen gehört.
Auch unter dem Aspekt der Migration könnten Beobachtungen in Ägypten von den o.a. divergieren. In Deutschland sind bei den religionsverschiedenen Ehen überwiegend die Männer Migranten, entweder zum Zweck der weiteren Ausbildung in die BRD gekommen oder Migranten der 2. Generation oder auch Heiratsmigranten. Bei den religionsverschiedenen Ehen hier in Ägypten sind in der Regel die Frauen Heiratsmigrantinnen, sieht man von dem Fall der rein ägyptischen religionsverschiedenen Ehe ab.

Migration bedeutet für die Betroffenen, daß sie sich mit dem neuen Kontext auseinandersetzen müssen und so ihre persönliche Identität, ihre Biographie und Lebenssituation, in erster Linie unter der Perspektive ihrer Migration sehen. Wie oben schon angesprochen, definieren Männer sich in der Regel im Gegenüber zur Gesellschaft des Heimat- und Migrationslandes und deren Werten, Frauen im Gegenüber zur Familie. Aber dennoch haben überwiegend auch die deutschen Frauen, die einen Ausländer geheiratet haben und in der BRD geblieben sind, eine "kleine Migration" vollzogen, indem sie die Kultur und Religion ihres Mannes als die dominante Kultur für die Familie akzeptiert haben und im Alltag umsetzen. So hat die im Beispiel oben genannte Paula eine doppelte Migration hinter sich gebracht: einmal kam sie von Spanien als Kind nach Deutschland, ferner migrierte sie mit der Heirat noch einmal in die muslimisch-pakistanische Kultur. Auch diese kleine Migration bewirkt, wie oben deutlich wurde, ähnlich wie eine große Heiratsmigration in das Heimatland des Mannes, eine tiefe Auseinandersetzung mit seiner Kultur und Religion.
Der Aspekt der Migration spielt damit unmittelbar in das Gesagte hinein. Der Migrationsprozeß bzw. die Integration gelingt wirklich nur dort, wo die angestammte Identität sich bewährt, d.h. existentiell bedroht wird und daraus gestärkt hervorgeht. Nur diejenigen Migranten scheinen wirklich glücklich, die sich ganz auf das Fremde eingelassen haben und damit ganz bei sich selbst sind.

Bestehende kirchliche Dialogkonzepte oder Dialogtheologien vermögen zu dieser interreligiösen Alltagspraxis nichts zu sagen. Hier geht man vielmehr davon aus, daß ein multireligiöses Zusammenleben eine Organisations- oder Verwaltungsaufgabe ist. Die Institutionalisierung von Dialogveranstaltungen im kirchlichen Raum der BRD ist von dem Bemühen getragen, Gemeinsamkeiten mit Angehörigen anderer Religionen, heute überwiegend mit Muslimen, zu finden. Mit den bestehenden Differenzen weiß man nicht umzugehen, sie stören eher. Daher werden sie höchstens bestaunt, und man spricht davon, wie sehr einen die andere Religion "bereichert". Weiter interessiert man sich aber nicht dafür und bemüht sich nicht um ein Verstehen des Fremden oder des Differenten. Vielen der heutigen theoretischen bzw. theologischen Dialogkonzepte geht es um die "gemeinsame Suche nach Wahrheit" und in diesem Prozeß um ein Kennenlernen der anderen Religion. Dies allerdings, um die eigene Religiosität bzw. Wahrheitserkenntnis zu vertiefen. Der Prozeß des Kennenlernens ist somit von vornherein geschlossen: Da das primäre Interesse die eigene Wahrheitserkenntnis ist, dient er dem Zweck für die eigene Person, nicht der des anderen bzw. nicht der Beziehung zum anderen. Diese Art der Entwürfe scheinen nur ein Fortschritt zu sein, wenn sie z.B. das "Ende der Absolutheitsansprüche" oder die "Einheit aller Religionen" proklamieren. Voraussetzung für die Teilnahme am Dialog ist in diesen Konzepten das Ausleben des Absolutheitsanspruchs, mit der eine jede Religion ihre (geoffenbarte) Wahrheit als die einzige versteht. (Anm. 2) Liberale Anschauungen der Aufklärung werden hier als universal, also für die gesamte Menschheit gültig, erklärt. Westliche Hegemonie ist in diesen Konzeptionen unmittelbar zu erkennen, in der Instrumentalisierung der anderen für den Zweck der eigenen Wahrheitserkenntnis, in den Vorschriften für den Dialog, für das Miteinandersprechen, in der Durchsetzung der scheinbar universalen Werte und Ziele, die doch nur die eigenen sind. Nicht zuletzt bewirken die ignorierten Differenzen wiederum Konflikte oder zumindest die Bestätigung bestehender Feindbilder und keineswegs deren Abbau.

Von der interreligiösen Alltagspraxis der Ehen und auch der anderer praktischer Felder wie Schule o.ä., wo inter- bzw. multireligiöser Umgang sozusagen normal und nicht institutionalisiert ist, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild und ein vollkommen anderer Anspruch an ein theoretisches Dialogkonzept. Die bestehende Praxis, in der Menschen verschiedenen Glaubens miteinander leben, ist nicht davon geprägt, daß sie sich erst einmal zusammensetzen und ihre Absolutheitsansprüche aufgeben, bevor sie sich, wie in einer Ehe, lieben und weiter miteinander reden! Das wäre auch absurd! Auch hier ist wieder die Kluft von Wissenschaft und Praxis zu erkennen, die genannten theoretischen Konzeptionen haben keine empirische Basis, sie haben niemanden befragt und somit keine "Sicht von unten" angewandt. Im Grunde sind sie zu einfach, zu simpel, und werden der praktischen Komplexität von Gemeinsamkeiten und Differenzen nicht gerecht. Vielleicht sollte der Dialogbegriff für diesen Zusammenhang ganz aufgegeben werden, da er ein theoretisches Konstrukt ohne empirische Basis ist. Statt dessen von interreligiöser Praxis oder interreligiösen Beziehungen zu sprechen, scheint m.E. sinnvoller zu sein. Es besteht mehr denn je die Notwendigkeit, multikulturelles und multireligiöses Zusammenleben zu reflektieren und theoretische Entwürfe zu entwickeln, die die bestehenden Differenzen nicht marginalisieren oder ignorieren, sondern gerade dort ansetzen.
Der Umgang mit dem Fremden kann nur dort gelernt werden und gelingen, wo die Fähigkeit vorhanden ist, Fremdes als solches zu lieben und zu verstehen. Gewiß sind die Bedingungen dafür in einer religions- oder kulturverschiedenen Ehe eher gegeben als in anderen Bereichen der Gesellschaft, da die Liebe der Partner den gesamten o.g. Prozeß der Beziehungsarbeit und des Miteinander ermöglicht. Das ist eben der Modellcharakter dieser gelungenen Ehen für andere Beziehungen.

Sicherlich läßt sich das Gesagte daher nicht unmittelbar auf andere Felder, in denen Menschen verschiedener Religionen und Kulturen zusammen leben, übertragen. M.E. ist die Einsicht in den komplexen Zusammenhang hingegen ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung: Diese Einsicht wird in der nächsten Ausgabe des Papyrus fortgeführt, es wird aufgezeigt, wie mit bestehenden Differenzen, die präsent bleiben und nicht zu überwinden sind, fruchtbar umgegangen werden kann. Es geht darum, sie zu verstehen bzw. Fremdes zu verstehen, was für uns alle sehr schwer ist. Ein Ausflug in die differenztheoretische, postmoderne Philosophie wird hier vorgenommen sowie einige Gedanken zur philosophischen Disziplin der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen, ausgeführt. (Anm. 3)

Anmerkungen
    • Anm. 1 
      Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen / Verband binationaler Partnerschaften und Familien, Sitz in Frankfurt/M.
      (Siehe hierzu auch den Beitrag "Information vor Entscheidung" –Anm. KFN.)
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 2 
      In erster Linie ist von diesen Vertretern Paul Knitter zu nennen, ein katholischer Theologe aus den USA.
      Man stelle sich einmal vor, mit Muslimen eine Dialogbeziehung aufzubauen, aber ihnen zur Bedingung zu machen, die shahada, also ihr Bekenntnis: "Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohamed ist sein Prophet" aufzugeben. In vielen Religionen macht der sogenannte Absolutheitsanspruch gerade erst das Spezifische aus.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 3 
      Alle Ausführungen sowie der folgende Teil beziehen sich unmittelbar auf Christiane Paulus: "Interreligiöse Praxis postmodern. Eine Untersuchung muslimisch-christlicher Ehen in der BRD", Frankfurt 1999.
      Zurück zum Fließtext

Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

Punkt  Punkt

   

Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 5—6/2000, pp. 18—24

Die Alltagspraxis religionsverschiedener Ehen und auch die anderer gesellschaftlicher Felder, in denen Menschen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen zusammenleben, ist oft weiter als gängige Dialogtheorien. Weiter in welchem Sinne? In dem Sinne, daß die eigene religiöse Identität nicht aufgegeben oder verändert werden muß, sondern sich gerade bewährt im Einlassen auf das Andere, das Fremde bzw. die andere Religion. Dieser Prozeß wurde oben als Bewährungsdynamik beschrieben, die angestammte religiöse Identität bewährt sich angesichts des Fremden, ohne sich davon abzugrenzen. Vielmehr findet sie in der existentiellen Auseinandersetzung einen positiven Zugang zur anderen Religion, der im Alltag praktisch umgesetzt wird. Der positive Bezug zur anderen Religion ergibt sich so unmittelbar aus der Beziehungskonstellation der Alltagspraxis, d.h. aus Liebe zum Partner und zur Familie, aus der Beziehungsarbeit, aus dem Bemühen, die Beziehungen der Familie untereinander gelingen zu lassen. Auch in anderen gesellschaftlichen Feldern wie Schule, Nachbarschaft oder Arbeitsplatz geht es um das Gelingen von Beziehungen bis hin zu langjährigen Freundschaften. Voraussetzung für das Gelingen von Beziehungen ist eben gerade ihre Voraussetzungslosigkeit; sofern Bedingungen, Normen oder notwendige Voraussetzungen formuliert werden, kann die Beziehung nicht mehr unmittelbar sein, sie bekommt einen verdinglichten Charakter. Auch Partnerschaften und Freundschaften können auf einer nur institutionellen Ebene nicht gedeihen.
Der nicht negativ abgrenzende, demnach positive Bezug zur anderen Religion läßt sich vorstellen als ein Übergang, als eine Art Brücke, wobei die Bewährungsdynamik das Vermögen dazu beschreibt.
Dieses Vermögen des Übergangs war hauptsächlich bei den Frauen in religionsverschiedenen Ehen zu beobachten, ein Resultat ihrer Orientierung am Muster konventionellen Rollenverhaltens bzw. der Beziehungsarbeit und in ihrer "kleinen Migration" (Anm. 1). Das Vermögen des Übergangs schafft ein Verstehen der anderen Religion, fungiert somit als hermeneutischer Schlüssel: Im (Rück-)Bezug zur eigenen Netzwerk-Identität werden hier nicht nur Gemeinsamkeiten mit oder Analogien zu der anderen Religion entdeckt, sondern gerade auch verbleibende Differenzen erkannt.

Die theoretischen Ansätze zum Thema der Multikulturalität und Multireligiösität waren bisher nicht in der Lage, die von Pluralismus geprägten Lebensweiten adäquat wahrzunehmen und zu verstehen. Praktische Erfahrungen des Zusammenlebens werden oft nur oberflächlich zur Kenntnis genommen und sofort in bestehende Überzeugungen eingeordnet. Wirklich neue Erkenntnisse können sich hieraus nicht ergeben. Überwiegend sind die bestehenden Überzeugungen an die Ideologien der klassischen Moderne gebunden, an die Tradition der Aufklärung und ihre Werte wie Individualisierung, Freiheit, Menschenrechte usw. Auch hier spricht man vom Pluralismus hingegen nur in einer harmlosen Variante: Es werden natürlich kulturelle und religiöse Verschiedenheiten zugestanden, diese Verschiedenheiten sind aber gegenüber den Werten der Aufklärung nur relativ, d.h. sie finden hier ihre Grenze. Dies stellt einen Zwei-Stufen-Pluralismus dar: Während auf der ersten Ebene Verschiedenheiten zu finden sind, die u.U. auch in Spannung zueinander treten könnten, wird dies auf der zweiten Ebene aber nicht zugelassen: die Vielfalt wird hier wieder zu einem harmonischen Ganzen vereint und damit aufgelöst. Auf der säkularen Seite der Kultur bedeutet dies, wie gesagt, die Rückbindung an die Werte der Aufklärung oder z.B. an das Grundgesetz, religiös gesehen bedeutet dies die Rückbindung an einen Gott, eine Ethik o.ä. Der Absolutheitsanspruch einer Religion wird damit notwendigerweise relativiert, d.h., es müßte damit aufgegeben werden, was oben im ersten Teil als genuin zu den Religionen zugehörig betrachtet wurde. Hingegen wird dies von einigen Vertretern "absolut" eingefordert.

Das Denkmodell des Zwei-Stufen-Pluralismus ist entsprechend das der klassischen Moderne. Das Modell läßt sich über die Kernmetapher beschreiben: Um einen Kern herum tummeln sich die Verschiedenheiten, sie stehen aber alle in einem Bezug zum Kern bzw. sind zu ihm hin gerichtet und werden von dem Kern relativiert. Den Kern kann man auch mit dem Begriff des Wesens oder des Eigentlichen beschreiben. Der Kern selbst stellt unumstößliche Wahrheiten und Werte dar, die – so ist dennoch der Anspruch in der nachkolonialen Phase – universal gelten sollen. Der rein theoretische Charakter des Modells ist an sich nichts Negatives, schwierig wird es jedoch einmal mit seinem Anspruch auf Universalität und damit sicherlich auch mit dem Anspruch, praktisches Zusammenleben verschiedenkultureller und -religiöser Menschen zu verstehen, zu deuten und nicht zuletzt politisch-gesellschaftlich zu organisieren.
Die eingehende Kritik an der Aufklärung (Anm. 2) zog in den 70er und 80er Jahren zusammen mit dem Zweifel am immerwährenden Fortschritt den Begriff der Kontextualität nach sich: Es wurde erkannt, daß jede theoretische Erklärung von Phänomenen jeweils kontextuell bedingt ist. Sie entsteht in einem Kontext und ist wiederum nur für diesen Kontext gültig. Dies bedeutet letztlich eine Absage an alle Universalismen. Bedeutet dies nun heute auch den Verzicht auf den Anspruch der universalen Gültigkeit von Demokratie und v.a. der Menschenrechte?

M.E. ist heutzutage mit dem Transfer europäischen Gedankengutes in den Rest der Welt schon etwas Vorsicht geboten. Auch wenn die Menschenrechtserklärung von den UNO-Mitgliedstaaten unterschrieben wurde, so bleibt sie dennoch selbst eine europäische Tradition (Französische Menschenrechtserklärung von 1789), darüber hinaus eine Verordnung von Oben, was dem Charakter der Menschenrechte zutiefst widerspricht, denn sie sollten im Grunde ja keine Menschenverordnungen sein. Es geht hier nicht darum, aufzuzeigen, daß an vielen Orten aufgrund von politischen und wirtschaftlichen Gründen wie Armut, Not, Ausbeutung etc. die Menschenrechte nicht durchgesetzt werden können, eine andere Ebene ist hier angesprochen: Es gibt zwischen den Menschenrechten und der kulturellen Alltagspraxis anderer Völker inhaltliche Spannungen, diese werden oft ignoriert oder nach europäischen Maßstäben umgedeutet. M.E. müßten sich die Menschenrechte aufgrund ihres universalen Anspruchs auch an extremen Phänomenen bewähren wie z.B. an dem Sati, der indischen Praxis der Witwenverbrennung, oder an der Beschneidung von Mädchen im afrikanischen Raum. Nicht alle diese Praxen werden gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt, es gibt auch Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes sterben möchten oder Frauen, die sich beschneiden lassen wollen. Auf jeden Fall ist das Votum für eine totale und sofortige Abschaffung dieser Praxen falsch, da die kulturellen und religiösen Überzeugungen innerhalb des Kontextes ja weiterhin bestehen bleiben (Anm. 3). Aber auch normale, alltägliche Phänomene anderer kultureller Kontexte können mit den Menschenrechten in Spannung treten: das Recht auf körperliche Unversehrtheit – so wie wir Europäer dies verstehen – ist nun einmal auch nicht mit der jüdischen und muslimischen Praxis der Beschneidung von Knaben zu vereinbaren. Ob hingegen die Menschenwürde nach 10 Jahren Einsamkeit in einem deutschen Altersheim noch unangetastet ist, ist auch noch die Frage (Anm. 4). Auch die Idee der Menschenrechte entstand in einem bestimmten Kontext: in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert, zu Beginn der industrialisierten modernen Gesellschaft. Der Widerspruch von kontextueller Bedingtheit und universalem Anspruch ist schon in dieser Deklaration der Menschenrechte ganz deutlich, denn mit dem Menschen wurde hier zweierlei gemeint: einmal der Mensch als Gemeinschaft im Sinne der französischen Nation und zum anderen der Mensch als Idee. Welche Autorität legitimiert nun die Menschenrechte, wie ist in einem Konfliktfall zu verfahren? Nach Lyotard wird jeder Konfliktfall um die Menschenrechte zu einem unlösbaren Widerstreit (Anm. 5). Die universale Gültigkeit der Menschenrechte wird kritisiert, sie können nur eine kulturrelative Bedeutung beanspruchen. Sofern von einem in eine Kultur eingebetteten Menschen auf sein sogenanntes Wesen abstrahiert wird, wird der konkrete Mensch damit automatisch entfremdet, d.h. er wird gleich gemacht oder assimiliert. Dies entspricht dem Kernmodell, welches den Menschen selbst in Wesen und Erscheinung aufteilt und damit unmittelbar bewertet, denn das Wesen des Menschen wird als das Wichtige begriffen, die vielfältigen Erscheinungen als sekundär.

Die christlich-abendländische Anthropologie hat im Grunde keine Vorstellung von fremden Menschen, Fremdheit ist hier nur als Übergangskategorie begriffen, als etwas zu Überwindendes. Denn Fremde und Fremdes erzeugen Angst und Spannung, die aufgehoben werden muß. Ein Vertrautwerden mit dem Fremden oder mit den fremden Menschen kann nur mit ihrer Entfremdung, d.h. Gleichmachung, einhergehen, das Fremde als solches kann nicht ertragen werden. Es gibt kein Konzept für den bleibenden Fremden, er gilt als Gast oder Wanderer, als Nachbar oder Freund kann er nach der bestehenden Auffassung nicht mehr fremd sein. Durch die Aufforderung zur christlichen Barmherzigkeit wird der Fremde entfremdet und zum Nächsten gemacht, während ein Konzept für den Fremden fehlt, der statt Barmherzigkeit Gerechtigkeit will. Dies z.B. unterscheidet die christlich-säkulare Konzeption von der muslimischen, in der Fremdheit auch eine bleibende Kategorie darstellt, hier bekommen z.B. Gäste, Nachbarn und Andersgläubige Rechte zugesprochen und sollen gut behandelt werden (Anm. 6). Die praktische Toleranz, die bei vielen gläubigen Muslimen zu finden ist, bezieht sich direkt auf die Fremden. Toleranz ist hier nicht wie im europäischen Kontext eine abstrakte, formale Kategorie, die in Absehung von Religion, Geschlecht, Hautfarbe etc. gültig ist, sondern eine Kategorie, die Andersheit oder Differenz gerade beläßt.

Durch einen genauen Blick auf gelebte Praxis oder durch eine Forschung, die mit der im ersten Teil des Artikels genannten "Sicht von unten" arbeitet, stellt sich die gelebte Praxis oft komplexer dar, als die gängigen Theorien sie erfassen können. Die soziologische Schule "Chicago School" versucht hingegen mit ihrer Vorgehensweise, aus dem Datenmaterial (Befragungen, Interviews u.a.) unmittelbar Theorien zu generieren. Es geht eben bei der Forschung insbesondere im anderskulturellen oder interkulturellen Kontext gerade nicht um Verifizierung oder Falsifizierung bestehender Hypothesen, sondern um deren Entdeckung. Nur so kann eine neue Theorie entstehen (Anm. 7). Als theoretisches Erklärungsmuster der Bewährungsdynamik, der bleibenden Andersheit oder Fremdheit in der religionsverschiedenen Ehe oder der Übergänge ist das Kernmodell bzw. das des Zwei-Stufen-Pluralismus zu eng, im Grunde ist es unangemessen und falsch. Auch mit dem Verweis auf die Problematik, die der Konzeption der Menschenrechte innewohnt, ist, so hoffe ich, deutlich geworden, daß sich das theoretische Kernmodell, das die kulturellen und religiösen Verschiedenheiten auf der zweiten Ebene auflöst, nicht mehr halten läßt.

Es geht darum, Pluralismus radikal zu denken. Die Philosophie der Postmoderne ist ein solcher Versuch (Anm. 8). Weithin bestehen viele Vorurteile gegenüber postmoderner Philosophie, sie resultieren aus der Angst vor dem Verlust vertrauter Überzeugungen und Wahrheiten, die mit einem radikalen Pluralismus aufgegeben werden müßten, entsprechend die der universalen Gültigkeit der Menschenrechte. Daher herrscht ein sehr oberflächliches und falsches Verständnis postmoderner Philosophie, man meint, damit sei der Verlust aller Verbindlichkeiten gemeint, es wird sofort "anything goes" assoziiert oder Irrationalität oder ein neuer Mythos. Postmoderne hingegen bezeichnet etwas anderes: zeit- und ideengeschichtlich entstand sie zusammen mit dem Unbehagen an der Moderne durch die Einsicht in die sogenannten Schattenseiten der Moderne, der Grenze des Fortschritts und der Existenz von Modernitätsverlierern. Postmoderne stellt keinen Gegensatz zur Moderne dar, kein neues Zeitalter, sondern ist ein neuer Blick, eine neues Verständnis der Moderne. Während die theoretischen Konzeptionen der bisherigen Modernitätskritik wie z.B. die der Kritischen Theorie jedoch innerhalb des Denkens der klassischen Moderne bleiben, ist die Modernitätskritik postmoderner Philosophie aufgrund der differenztheoretischen Position radikal: Das Projekt der Moderne im Sinne einer universalen Emanzipation ist gescheitert. Jean François Lyotard bezeichnet dies mit dem Satz: "Die großen Metaerzählungen der Geschichte sind an ihr Ende gekommen" (Anm. 9). Das Kernmodell wird hier völlig aufgegeben, Differenzen werden schon auf der Ebene der Basisplausibilitäten, d.h. der theoretischen Voraussetzungen gewahrt. Die Einheit der Vernunft galt als Garant für Entwicklung und Fortschritt, die Auffassung, die Vernunft sei einheitlich bzw. es gebe nur eine Vernunft, muß aufgegeben werden. Für die postmoderne Philosophie zeigt sich so die Vernunft der Aufklärung schon im Plural. Schon Kant unterschied die Vernunft in drei Teilbereiche: die theoretische Vernunft als kognitive Rationalität, die praktische Vernunft als ethische Rationalität und die der Urteilskraft als ästhetische, sensitive Rationalität.

Die einzelnen Rationalitätsformen – oft wird auch hier der Begriff Diskursarten verwandt – stellen jedoch keine Monaden, keine in sich abgeschlossenen Bereiche, dar, sondern über die Differenzierung hinaus existieren Verflechtungen ihrer Zuständigkeitsbereiche. Jeder Vernunfttyp hat unterschiedliche Geltungsansprüche, keiner davon ist hingegen universal. Vernunft gibt es nur noch im Zusammenspiel einzelner Vernunftmomente. Eine trennscharfe Abgrenzung der Diskursarten ist unmöglich, sogar falsch, denn es gilt hier, Zwischentöne wahrzunehmen, die mit Begriffen der abendländischen Logik nicht erfaßt werden können. Logik ist zu "grobschlächtig", um Zwischentöne wahrzunehmen. Ein sensitives, ästhetisches Erkennen hingegen vermag Verflechtungen zu gewahren, Verflechtungen, wie sie sich z.B. aus der Kunst ergeben: einmal ist Kunst autonom, reine Ästhetik oder ästhetische Vernunft, zum andern steht sie immer in einem gesellschaftlichen Bezug oder Kontext, hat demnach auch eine moralische Funktion, indem sie dem gesellschaftlichen Kontext etwas mitteilt. Zwei verschiedene Kunstverständnisse lassen sich darin erkennen: die klassische Avantgardeposition des l'Art pour l'art und die ethische Position, die den Zusammenhang von Kunst und Leben fordert.
Während die Vernunfttrias Kants eine formale Unterscheidung der Bedingungen des Erkennens darstellt, ist der eigentliche Pluralismus inhaltlich gegeben. Die Einbindung der Diskursarten bzw. der Vernunfttypen in historische und gesellschaftliche Kontexte, d.h. in inhaltliche Bezüge, wird unter dem Begriff Paradigma/Paradigmen gefaßt. Vielfach wird auch von Weltanschauungen oder von theoretischen Konzeptionen gesprochen. Gerade unser modernes Zeitalter hat eine große Anzahl von Paradigmen hervorgebracht, viele von ihnen tragen die Endung -ismus: Idealismus, Liberalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Pietismus, auch Multikulturalismus oder Parlamentarismus. Die Paradigmen sind nun nicht bloß Variationen der oben genannten Vernunfttypen, sondern sind elementar unterschiedlich, erheben die gleichen Ansprüche wie die Diskursarten selbst: sie definieren die Bedingungen des Erkennens und die Gegenstandsbereiche. Was eint und unterscheidet z.B. Kapitalismus und Multikulturalismus oder Sozialismus und Pietismus? Die Antworten darauf sind schwer, im Grunde sind sie nicht vergleichbar, also inkommensurabel. Diese Unordentlichkeit bzw. die Inkommensurabilität selbst ist hingegen nicht irrational, im Gegenteil. Z.B. die Zahl π, die das Verhältnis von Umfang und Radius eines Kreises erfaßt, oder auch die Zahl √2 geben dem Bewußtsein der Inkommensurabilität Klarheit und Stabilität, obschon die Zahlen hinter dem Komma gegen Unendlich gehen. Der Befund ist höchst rational. Ferner gibt es auch Gemeinsamkeiten, denn Strecke und Kreis, deren Verhältnis über π bestimmt wird, sind beides Linien. Entsprechend sind die Verhältnisbestimmungen von Paradigmen rational. Verschränkung und Unterscheidung der Paradigmen ergibt als Denkmodell des Zusammenhangs nun ein Netz. Ein Netz hat keine hierarchische Struktur (s.o. im ersten Teil die Ausführungen zur Identität). Die Zuordnung der Paradigmen untereinander läßt ferner keine logische Struktur mehr erkennen, das Modell der Verflechtung oder des Netzes bekommt einen unstrukturierten, unordentlichen Charakter (Anm. 10).
Der gesamte Paradigmenpluralismus ist insofern als rationale Unordentlichkeit zu bezeichnen. Die Furcht vor der postmodernen Philosophie ist die, sich dieser rationalen Unordentlichkeit stellen zu müssen: der Rückbezug auf den Kern bzw. auf das menschliche Wesen mit der Einheitsinstanz Vernunft war viel einfacher! Es gibt aber keine Alternative dazu, nur das Vertrauen auf die Vernunft, die die Analyse vornehmen und weiterschreiten kann. Welche Vernunft aber, wenn nicht die logische Rationalität, ist jetzt gemeint?

Die Vernunft stellt gegenüber dem Verstand, der sich nach Kant direkt auf die Gegenstände bezieht, das weitere, überlegenere Vermögen dar. Sie hat kein Eigeninteresse, sondern versucht, die unterschiedlichen Ansprüche wahrzunehmen und ihnen gerecht zu werden. Sie ordnet die Gegenstandsfragen zu, sucht stimmige Verbindungen oder Bezüge herzustellen. Sie sucht Gemeinsamkeiten der Diskursarten und Paradigmen zu reflektieren und bei Konflikten abzuwägen. Das Ganze verläuft hingegen nicht so harmonisch, wie es auf den ersten Blick aussieht, es gibt auch den Widerstreit der Diskursarten selbst (Anm. 11). Die Aufdeckung unterdrückter Wirklichkeiten und Positionen ist eine Bezeugung des Widerstreits, das ist die eigentliche Aufgabe der Intellektuellen. Nach Lyotard ist die Heterogenität der Diskursarten und Paradigmen absolut, d.h. ohne Vermittlung. Der Gerechtigkeit zuzuarbeiten bedeutet für ihn allein, der unterdrückten Partikularität zur Artikulation zu verhelfen.
Für Welsch ist die Heterogenität aber nicht absolut. Wie oben das mathematische Beispiel zeigt, kann die Vernunft, auch inkommensurable, also nicht vergleichbare Positionen in ein klares oder stimmiges Verhältnis bringen. Auch wenn sich aus dieser Differenz ein totaler Dissens ergibt, so ist dieser ein höchst rationaler Befund, d.h., das Verhältnis ist transparent und deutlich geworden. Die umsichtige Vernunft kann in diesem Sinne nicht mit der abendländischen Logik gleichgesetzt werden, sondern verkörpert ein überlegeneres Vermögen, das grenzbewußt situationsadäquat und umsichtig handelt.

Religionen lassen sich auch als heterogene religiöse Diskursarten oder Paradigmen bezeichnen, deren Konstellation zueinander im Modell eines Netzes, einer unstrukturierten Verflochtenheit, begriffen werden kann. Im praktischen Alltagsdiskurs muslimisch-christlicher Paare läßt sich eine Bestätigung dafür finden. Das Verhältnis der Religiösität der Partner ist gekennzeichnet von Gemeinsamkeiten, Analogien und mehr oder weniger Differentem, ja Inkommensurablem, Unvergleichlichem. Die Bewährungsdynamik zeigt die Fähigkeit zum Übergang auf, in diesem Vermögen ist die Vernunft zu erkennen, die die Übergänge zum Vollzug bringt und das Verhältnis klärt. Im Grunde ist dieser Prozeß ein hermeneutischer, es geht hier um Verstehen: um ein Verstehen, das sich nicht nur auf Gemeinsamkeiten bezieht – denn Gemeinsamkeiten oder auch Analogien zu erkennen und zu verstehen ist einfach – sondern sich gerade auf Differentes bezieht, auf das, was fremd bleibt.

Differentes oder Fremdes zu verstehen ist keine Frage von theoretischer Einsicht, sondern braucht einen praktischen Zusammenhang. Nur in einem realen Lebensvollzug kann sich Fremdverstehen ereignen. Dies muß nicht unbedingt eine religionsverschiedene Ehe/Familie sein, aber zumindest eine Art Gemeinschaft mit Fremden, die von Dauer ist. Die Dauer der Beziehung zu Fremden ist das notwendige Moment in dem hermeneutischen Prozeß. Theo Sundermeier hat unter religionswissenschaftlicher Perspektive den Begriff der Konvivenz geprägt: Er beschreibt die Erfahrung eines gemeinsamen dauerhaften Lebens in einer Familie oder Gruppe (Anm. 12). Als Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft stellt sie den Rahmen dar, in der Differenz erfahren und gelernt werden kann, dauerhaft mit ihr umzugehen. Dieser Verstehensprozeß beschreibt nichts Großartiges, nichts, was enorme Veränderungen hervorrufen würde, sondern die Veralltäglichung der Beziehung zum Fremden. Das Fremde als solches zu ertragen, ohne es zu vereinnahmen, zu homogenisieren, ist für Menschen des christlich-abendländischen Kontextes schwierig. Philosophisch gesehen, ist die oben schon genannte Entfremdung des Fremden an die selbstreflexive Subjektivität gebunden, die in der europäischen Tradition verankert ist, vor allem im deutschen Idealismus. Hegels Dialektik von Herr und Knecht charakterisiert alle bestehenden Beziehungen als harten Kampf zweier widerstreitender Momente: Selbstbewußtsein konstituiert sich in der Unterwerfung des anderen und umgekehrt. Entwicklung kann es hier nur dialektisch, d.h. nur in der Form von These und Antithese geben.
Verstehen im Sinne eines Anerkennens gibt es in dieser Dialektik nicht, die Vernunft stellt hier kein umsichtiges, sensitives Vermögen dar, das dem anderen gerecht zu werden versucht, sondern die harte Dialektik operiert nach gestellten Notwendigkeiten. Der andere wird in der jeweiligen Konstitution des Selbstbewußtseins instrumentalisiert, bekämpft und zum Schluß wird über ihn verfügt. Knecht und Herr sind in diesem Prozeß austauschbar, denn dieser Prozeß reproduziert sich immerfort.

Die Selbstreflexion, d.h. der Bezug zum eigenen Ich, benutzt den anderen zur Konstitution des Selbst. Dies ist das grundlegende Prinzip europäischen Denkens: das Ich bildet den Kern (!) alles Bestehenden. Dieses Grundprinzip der Beziehung zu sich selbst über den anderen setzt sich in vielen weiteren philosophischen und psychologischen Ansätzen fort. Dabei lassen sich drei Variationen herausbilden, die das Fremde oder den anderen instrumentalisieren und demnach für ein wirkliches Fremdverstehen nichts austragen. Einmal ist dies das Gleichheitsmodell, es geht von einer universalen Gleichheit der Menschen aus. Dieses Modell ignoriert das Fremde. Zum zweiten ist das Alteritätsmodell zu nennen, es mythologisiert das Fremde im Sinne des Faszinierenden, Exotischen, um sich davon abzugrenzen. Das dritte Modell ist das Komplementaritätsmodell, es benutzt den Fremden zur Ergänzung oder Selbstvergewisserung.
Diese Ausführungen entsprechen dem, was oben gesagt wurde: Es gibt in der christlich-abendländischen Tradition kein Konzept für den bleibenden Fremden, kein Konzept für den Alltag. Notwendig ist es allerdings schon, ein solches zu entwickeln, da die modernen Lebenswelten mehr und mehr von Multikulturalität geprägt sind. Dieser Prozeß wird in Zukunft eher zu- statt abnehmen. Daher scheint es sinnvoll, einen Ansatz praktischen Fremdverstehens auf dem Hintergrund der postmodernen Philosophie weiterzuentwickeln: Denn gerade hier geht es um das Recht des Heterogenen, des Differenten oder des Fremden. Darüber soll und kann nicht verfügt werden, hingegen geht es um die Befähigung, mit dem Fremden zu leben, um gelingende Beziehungen im Alltag, um ein Verstehen des Fremden oder des fremden Menschen.

Das Kernmodell ist zu verabschieden und damit der Glauben an die Universalität der Werte der Aufklärung und der europäischen Moderne. Auch wenn das postmoderne Modell der unstrukturierten Verflechtung verschiedener kultureller Diskursarten und Paradigmen natürlich auch ein europäisches Modell ist, birgt es doch gegenüber dem Kernmodell einen wirklich qualitativen Unterschied. Es abstrahiert nicht von der Wirklichkeit realer Beziehungen bzw. vom Lebensvollzug, sondern nimmt dies gerade mit auf. Und es ist in jedem Fall herrschaftskritisch, denn es versucht, dem Unterdrückten, nicht Gesagten, zur Artikulation und zu seinem Recht zu verhelfen, d.h. den Widerstreit zu bezeugen. Die sensitive, transversale Vernunft ist der hermeneutische Schlüssel hier in diesem Verflechtungsmodell, sie vermag im Rahmen der Konvivenz, einer multikulturell gelebten Praxis mehr zu erkennen als nur Gleiches und Vergleichbares. Sie ist fähig, Fremdverstehen zu realisieren, da sie sich auch auf radikal Differentes erstreckt und den Unterschied klärt. Hier ist ein klarer Dissens besser als eine Enttäuschung über einen unmöglichen Konsens. Die transversale Vernunft ermöglicht so gelingende Beziehungen zu fremden Menschen, ermöglicht wiederum gelingende Konvivenz (hermeneutischer Zirkel). Damit "sind wir auf dem Weg, das Verschiedene nicht bloß hinzunehmen – 'zu tolerieren', sondern in seinem Eigenwert zu schätzen und deshalb zu fördern und zu verteidigen" (Anm. 13).

Anmerkungen
    • Anm. 1 
      Siehe Teil 1 des Artikels in Papyrus 3—4/2000, S. 23ff. Das Vermögen zum Übergang war momenthaft auch bei Tariq als Migrant der 2. Generation zu beobachten, aber weder bei männlichen Migranten der ersten Generation, noch bei männlichen Einheimischen.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 2 
      Max Horkheimer / Th.W. Adorno: Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969 (1944).
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 3 
      Etwas anderes ist eine eigene, interne Debatte um diese Praxen bei Veränderung oder Transformation eines Kontextes. Auch hier in Ägypten gibt es ja eine Debatte um die Mädchenbeschneidung.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 4 
      Unterscheiden möchte ich die Problematik vom politischen Diskurs und ganz konkret die Arbeit von Amnesty International würdigen, die auch auf dem Hintergrund der Menschenrechte politischen Gefangenen zu helfen versucht.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 5 
      Jean-Franoçis Lyotard: Der Widerstreit, München 1987. Der Widerstreit ist im Gegensatz zum Rechtsstreit nicht an Institutionen gebunden, sondern ist ein abstrakter, philosophischer Begriff. Lyotard versucht mit diesem Begriff das zu fassen, was bei einem Rechtsstreit uneingelöst bleibt, nicht in bezug auf Recht, sondern in bezug auf Gerechtigkeit uneingelöst bleibt.
      Ein solcher Widerstreit zu den Menschenrechten stellt auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam dar.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 6 
      Ursula Mihciyazgan: Die Fremden als "die zu entfremdenden" und die Fremden als "die anderen". Fremdheit im Christentum und im Islam aus religionssoziologischer Sicht, in: gemeinsam 27,11/12 1993, 24—34. Auf der anderen Seite, so Mihciyazgan, mangele es dem muslimischen Konzept an Empathie.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 7 
      Glaser, Barney G. / Straus, Anselm L.: Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie. Eine Grundstrategie qualitativer Sozialforschung, in: Christel Hopf u.a. (Hrsg.): Quantitative Sozialforschung, Stuttgart 1979.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 8 
      Die Ausführungen zur Postmoderne beziehen sich, soweit nicht anders verwiesen, auf Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 1993 und ders.: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 9 
      Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz und Wien 1986.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 10 
      Es wird auch hier vom Modell des Mobiles gesprochen (Habermas), hingegen ist die Struktur des Mobiles nicht komplex genug. Die Verflechtungen zum Netz hin haben hingegen keine Struktur, das Netzmuster ist sozusagen unordentlich.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 11 
      Nach Lyotard ist der Widerstreit eine Tragik, die direkt aus der Verfaßtheit der Sprache selbst resultiert: man kann immer nur in einer Diskursart sprechen, somit kommen die anderen nicht zu ihrem Recht der Aktualisierung. Lyotard reflektiert das Ungesagte, das (auch im menschlichen und politischen Sinn) Unterdrückte, das sich artikulieren und zu seinem Recht kommen will.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 12 
      S. auch im folgenden: Theo Sundermeier: Konvivenz und Differenz , Erlangen 1995 und ders.: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996.
      Zurück zum Fließtext
    • Anm. 13 
      Welsch (1993): 317.
      Zurück zum Fließtext

Punkt Punkt Punkt

 

Fingerzeig Zum 1. Teil von "Familie und binationale Ehe"
 
Zum Seitenbeginn
Zum PapyrusArchiv

 

Linie