Kairener Stadtbaugeschichte
    Inhalt:
    Die Entwicklung Kairos von 1800—1980
    Zwischen Tradition und Modernismus
    Die Kairoer Neustadt
    Auf der Suche nach Heilung: Tuberkulosekranke Europäer in Ägypten
    Maadi – Wohnen im Grünen
    Geschluckt – aber noch nicht verdaut: Dörfer in Kairo
    Hefeteig oder Krebsgeschwür – Die "Unbesiegbare" wächst weiter
    Kairos neue Oper wird eröffnet

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Die Entwicklung Kairos von 1800—1980
von Siegrid el-Gabbas

Papyrus-Logo Nr. 2/86, pp. 4—8

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts umfaßte Kairo weniger als fünf Quadratmeilen. Es hatte zwei Häfen, Bulaq im Norden und Misr al-Qadimah im Süden. Die Zitadelle im Südwesten der Stadt war offizieller Regierungssitz. Die Gesamtbevölkerung betrug ungefähr 267.000 Einwohner, miteinbezogen ca. 10.000 Türken und Mamelucken, welche die herrschende Elite ausmachten. Diese wohnten hauptsächlich am Khalij-Kanal, in Birket al-Fil und in al-Azbakiyah, während die Kaufleute und Händler es vorzogen, in der Nähe ihrer suqs (Märkte) und wikalahs (Niederlassungen) zu wohnen.

Die ersten Reformen unter Mohamed Ali Pascha (reg. 1805—1848) brachten westliche Technologie ins Land. Mit Hilfe westlicher Ratgeber, unter denen anfangs die Italiener, später die Franzosen überwogen, machte sich Mohamed Ali an den Aufbau eines Staatsapparates, der geeignet war, die Kräfte Ägyptens für seine Zwecke zu aktivieren. Er zog den gesamten Grundbesitz an sich und leitete die Errichtung moderner Bewässerungsanlagen und andere Verbesserungen der Landwirtschaft ein, um die Erträge und die Staatseinnahmen zu steigern. Er ließ die ersten Fabriken in Ägypten bauen. Er schuf die ersten Schulen, die nicht religiös orientiert waren, Kairos Verwaltung wurde neu organisiert, Bestimmungen erlassen, daß die suqs und harahs (Gassen) von der Bevölkerung sauber zu halten seien, Straßen bekamen Namen und Häuser erhielten Nummern.

Neue Prinzen bauten ihre Paläste außerhalb der Stadtgrenzen, im Norden entlang des Nils. Gebildete Ägypter in hohen Positionen zogen Wohnviertel wie al-Azbakiyah und al-Hilmiyah al-Guedida vor, wo sie eine geschlossene Gemeinschaft bildeten.

Altstadt-Silhouette

Obwohl sich die Stadtgrenzen nicht sonderlich änderten, machte Kairo eine fieberhafte Entwicklung durch. Der öffentliche Sektor baute Paläste, Schulen und Fabriken. In einigen Stadtteilen wie Sayyidah Zaynab, al-Hawd, al-Marsud und Fum al-Khalij wurden neue Industrien angesiedelt, aber der Schwerpunkt war in Bulaq, wo sechs neue Fabriken gegründet wurden.

Um 1840 kamen die ersten Wagen in die Stadt, und die ungepflasterten Straßen stellten sich als ungeeignet für diese Transportmittel dar. Nun übernahm es die Regierung, das Straßensystem zu erneuern und zu erweitern.

Nach 1850 strömten viele Ausländer nach Kairo (1830: 10.000; 1850: 20.000), welche Anstellung oder Abenteuer suchten, jedenfalls nutzten sie die ausländerfreundliche Politik der Ottomanen, welche ihnen Schutz und Privilegien zusicherte. Die Neuerungsbestrebungen des Khediven Ismail (1863—1879) konzentrierten sich auf das Aussehen der Stadt. Der erste Boulevard, breit genug für die neuen bequemen Fahrzeuge (welche die Esel, Pferde und Kamele ersetzen sollten) verband al-Azbakiyah und die Zitadelle. Es gab zu dieser Zeit insgesamt 90 Kutschen in der Stadt.

Paläste, aufwendige Residenzen, Botschaften, Ministerien, Büros, europäische Hotels, Banken und sogar eine Oper wurden in dem neuen Distrikt gebaut, alles Werke von Ausländern, welche zudem den Finanz- und Grundstücksmarkt beherrschten, sowie die meisten technischen Berufe ausübten.

1865 wurde der Regierungssitz von der Zitadelle zum neuen Khediven-Palast und Verwaltungszentrum nach Abidin verlegt. Alle Änderungen und Verbesserungen betrafen nur die neuen Wohnviertel, während die alten Wohnviertel der unteren Schichten in ihrer Struktur nicht verändert wurden.

Da die Regierung kaum einsichtige Finanzpolitik betrieb und die westlichen Unternehmer und Bankiers diese Schwäche ausnutzten, geriet das Land immer tiefer in Schulden und mußte 1876 den Bankrott erklären. Daraufhin übernahm eine internationale Schuldenkasse, an deren Spitze Beauftragte der Regierungen Großbritanniens und Frankreichs standen, die Kontrolle über die Staatsfinanzen. Eine Volkszählung 1882 zählte 374.000 Einwohner in Kairo, von denen 21.650 Ausländer waren.

Um die Jahrhundertwende begann Kairo sich rapide auszuweiten. Grundstücksspekulationen und Erweiterungen des Bausektors nahmen zu, Fremdkapital floß reichlich ins Land, hauptsächlich in den Handel (z.B. in den Baumwollmarkt), kaum zum Aufbau von Industrie. 1907 gab es 150.000 Ausländer in Kairo, das waren 16% der Bevölkerung. Neue Wohngebiete wurden erschlossen, Fremdkapital floß in spekulative Projekte und in den Bausektor. Die Ausweitung des Verkehrsnetzes, besonders die Einführung der elektrischen Trambahn und das Bauen von Brücken über den Nil, erlaubte eine Erschließung und Erweiterung der nordöstlichen Vorstadt und des Westufers des Nils.

Ausländische Unternehmer, geschützt durch langfristige Verträge, legten 1865 Wasserleitungen, 1893 Elektrizität und Straßenbahnen. Moderne Transportmittel, wie Züge, importierte Kutschen für höhere Beamte und Europäer, kleine selbstproduzierte Karren für Fabriken nahmen zu, und nach dem ersten Weltkrieg kamen die ersten Automobile. Die weiten gepflasterten Straßen der modernen Stadt hielten die Handelsaktivitäten von der Altstadt fern und beschleunigten so den krassen Gegensatz zwischen Armut und Wohlstand.

Im Nordwesten, in der Umgebung des Bahnhofs und der Fabriken, entstanden Häuser auf privatem Ackerland für eine gemischte Bevölkerung. Die Nähe des Hafens und des Bahnhofs begünstigte die Bildung der ersten industriellen Slums in Bulaq, wo die Wohndichte damals Weltrekord erreichte: 3.000—4.000 Personen pro Hektar.

Zwischen 1897 und 1927 schon überschritt Kairos Zuwachsrate bei weitem die des Landes. In dieser Zeit blieb die Altstadt von den neuen Stadtteilen getrennt und blieb bevölkerungsmäßig homogen, mit hoher Bevölkerungsdichte und niedrigem sozio-ökonomischen Standard, während die neuen Städte sozial vielschichtig mit weit geringerer Bevölkerungsdichte waren. Verließ man die Altstadt, so war dies gleichbedeutend mit dem ersten Schritt eines sozialen Aufstiegs.

1927 hatte Kairo eine Millionen Einwohner und ernste Probleme, den Anforderungen gerecht zu werden. Der Wasserverbrauch verdoppelte sich in den Jahren von 1906 bis 1928. Die ersten Abwasserkanäle, begonnen 1906 und 1914 abgeschlossen, für eine Bevölkerung von 960.000 für das Jahr 1932 geplant, waren im Nu total überlastet.

Bevölkerungsdichte und Verschlimmerung der Wohnungsbedingungen betrafen hauptsächlich die Gebiete, in denen sich die Mittelschicht konzentrierte – waren sie doch die erste Station derjenigen, die aus den armen Gebieten auszogen – sowie die traditionellen Stadtviertel wie z.B. das Gebiet um die al-Azhar-Moschee, welche weiterhin die Bevölkerung anzogen. In der Altstadt waren Häuser, welche einst der Oberschicht gehörten, unterteilt in viele kleine Wohnzellen, sogar die Dächer wurden von Familien bewohnt, jeder freie Platz in Höfen und Durchgängen wurde als Wohnstätte genutzt. Esel und ihre Karren blieben auch weiterhin die einzigen Transportmittel. Für die Mehrheit der Stadtbewohner stieg der Lebensstandard zwischen 1870 und 1950 beständig, währenddessen verdoppelte sich aber die Stadtfläche und die Bevölkerung wuchs von 300.000 auf über zwei Millionen.

Die Regierung unter Präsident Nasser legte ihren Schwerpunkt auf die nationale Wirtschaft und soziale Entwicklung. Das Budget für Kairo war so minimal, daß die Verdopplung der Bevölkerung von drei auf sechs Millionen in weniger als 20 Jahren zwangsläufig Mißstände hervorrufen mußte. Die Anzahl der Ausländer ging stark zurück, und ihre Wohnviertel wurden von Ägyptern eingenommen. Die moderne Stadt wurde umstrukturiert und sollte die Nationalisierung wiederspiegeln. Die private Bauwirtschaft wurde durch strenge Mietgesetze (1954) gestoppt. Gefördert wurden lediglich – neben den Bauten der öffentlichen Hand – die von der Regierung subventionierten kooperativen Bauprogramme, welche großzügige Kredite und preisgünstig Land abgaben. So entstanden Madinat al-Awqaf und al-Mohandessin.

Direkte Regierungsaktionen konzentrierten sich auf zwei Gebiete:

  1. Im Norden Nasr City (Baubeginn 1960), welches ein neues Regierung-Zentrum werden und Wohnungen für die Mittelklasse der Beamten stellen sollte.
  2. Im Süden wurden Schwerindustrien um Helwan und Tibbin angelegt; so verwandelte sich dieses ehemalige Wintererholungsgebiet in eine typische Arbeitervorstadt mit den größten Bebauungsprojekten in ganz Ägypten.

Die gewaltige Expansion Kairos, welche die Stadt völlig verwandelte, begann in den späten 60er Jahren mit Hilfe einer neuen wohlhabenden Mittelklasse, welche großes Interesse zeigte, im Häusermarkt zu investieren. In der Mehrheit waren dies Akademiker, Handwerker, Beamte und Arbeiter, welche in den Ölstaaten arbeiteten und ihren Verdienst in Grundstücken, Häusern und Wohnungen anlegten. Sie standen in starkem Kontrast zu den wohlhabenden, gebildeten Familien, zu den armen und zu den jungen, ungelernten Landflüchtigen, welche weiterhin in die Stadt strömten (3 Personen alle 10 Minuten).

Die großen Investitionen trieben die Grundstückspreise und die Baukosten enorm in die Höhe. Zwischen 1975 und 1982 vervielfältigten sich die Preise für Grundstücke um das Zehnfache, die Baukosten um das Fünffache.

Die Baufläche nimmt jährlich um 1.200 Hektar zu, davon ist weniger als die Hälfte Wüste, der Rest besteht aus Ackerland. Bislang war die Regierung nicht in der Lage, informelle Siedlungen auf privatem Grundbesitz unter Kontrolle zu bekommen. Der jährliche Tribut von 600 Hektar wertvollen Ackerlandes zur Vergrößerung Kairos ist eines der ernsten Probleme, welches die Stadtplaner zu lösen haben.

Die städtische Wasserversorgung, die Kanalisation, die Abfallbeseitigung, sowie das Transportsystem sind völlig unzureichend für die momentanen Bedürfnisse der Stadt. Die Wasserversorgung hat zur Zeit eine Kapazität von 2,6 Millionen Kubikmeter täglich, die Hälfte davon geht durch undichte Stellen oder illegales Abzapfen verloren, ein Drittel aller Häuser sind dem Wasserversorgungssystem noch nicht angeschlossen. Ein 20-Jahresplan, der die Kapazität und die Verbesserung des Verteilernetzes als Ziel hat, ist bereits angelaufen und kostet 2,9 Billionen US Dollar (sprich: "Milliarden" –Anm. KFN).

Ebenfalls weist die Abwasserbeseitigung große Mängel auf. Das zur Zeit bestehende System – gebaut nach dem 1. Weltkrieg – ist völlig überaltert. Es ist geplant für 650.000 Kubikmeter täglich, während die Stadt 1.250.000 Kubikmeter erzeugt!

Der gegenwärtige Plan, um diese Mißstände innerhalb der nächsten 10 Jahre abzuschaffen, ist eines der größten Abwasserprojekte in der Welt und soll 3,4 Billionen (d.h. Milliarden) US Dollar kosten. Ein weiteres Problem ist die Abfallbeseitigung. Die Straßenreinigung untersteht den einzelnen Regierungszentren, während die Abfallbeseitigung privat organisiert ist, von den "zabalin", welche den Müll einsammeln und aus der Verwertung Profit machen (s. hierzu die Rubrik: Müllentsorgung –Anm. KFN). War das System bislang sinnvoll, so ist es jetzt durch das Anwachsen des Mülls überfordert. Die besseren Wohnviertel werden bevorzugt, da die Verwertung des Mülls mehr Gewinn verspricht als die der ärmeren Schichten. So passiert es immer häufiger, daß die ärmeren Wohnviertel keine Müllbeseitigungsmöglichkeiten haben.

Verkehrsprobleme und Transportschwierigkeiten sind fast unlösbar im heutigen Kairo. Aber auch hier bemüht sich die Regierung, Erleichterungen zu schaffen und versucht, den Verkehr für Autos und Fußgänger in Gang zu halten.

Straßen-Silhouette

Die Informationen sind weitgehend entnommen:
    • "Cairo 1800—2000: Planning for the Capital City in the Context of Egypt's History and Development", Background paper prepared for the Aga Khan Award for Architecture, Cairo Nov. 1984.

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Zwischen Tradition und Modernismus
Überblick über die neuere Stadtbaugeschichte Kairos

von Bernhard Homeyer

Papyrus-Logo Nr. 1—2/91, pp. 10—12

Die Stadtbaugeschichte Kairos kann in drei Großepochen unterteilt werden. Die erste Epoche ist die Zeit vor etwa 1870, dem Beginn der englischen Kolonialherrschaft. Die Einwohnerzahl war seit 1798 von ca. 270.000 bis 1860 auf ca. 282.000 gestiegen. Die Altstadt hatte nach antikem Schematismus einen quadratischen Grundriß, der von zwei sich kreuzenden Hauptstraßen in vier Quadranten geteilt wurde mit je einem großen Stadttor. Diese Durchgangsstraßen bestimmten im Stadtgrundriß die Handelsbezirke; abzweigende Sackgassen prägten die Wohnquartiere. Das Zentrum der Stadt bildete der Bazar im Zusammenspiel wirtschaftlicher und kultureller Faktoren.

Die zweite Epoche ist die Zeit des klassischen Kolonialismus, die bis etwa 1940 dauerte. Der Herrscher Ägyptens, Mohamed Ali, ließ eine zwei Kilometer lange Prachtstraße – die ehemalige Sharia Mohamed Ali – durch die Altstadt brechen. Sie verband seinen Wohnsitz auf der Zitadelle mit dem Ezbekiya-Garten. Sein Nachfolger Ismail, der französische und italienische Erziehung genossen hatte, plante eine Wohnstadt nach dem Vorbild von Paris westlich der Altstadt – nach ihm Ismailia benannt – aber Staatsbankrott 1876 und Eroberung Ägyptens 1882 durch die Engländer beendeten dieses Vorhaben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wohnten bereits etwa 600.000 Ägypter und etwa 30.000 Europäer in Kairo. Unter Tawfiq setzte eine rege Bautätigkeit ein, um vor allem für die vielen Europäer zwischen dem Ezbekiya-Garten und dem Hauptbahnhof Wohnraum zu schaffen. Es entstanden zahlreiche renaissancistische und neubarocke Bauten, aber auch spätklassizistische Architektur italienischer Prägung ist zu finden. In der Raumkonzeption erhielten alle Wohnungen ein Entrée und einen Salon. Einige Architekten versuchten sich in einer Art pseudo-islamischer Architektur, die allerdings in der Sackgasse des Formalismus steckenblieb. Die wohlhabenden Kairener wohnten weiter in Altkairo oder an der Peripherie auf dem Land. In der Neustadt lagen der Bahnhof und die großen Hotels, die Kaufhäuser und die Banken, hier wohnten überwiegend Europäer, und hier hatten sie ihre Handelsniederlassungen.

In der dritten Epoche ab den 40er Jahren dieses Jahrhunderts trat eine schnelle Verarmung der Bevölkerung und damit auch der Zerfall der Altstadt ein. Die unterentwickelte Infrastruktur der Altstadt begünstigte den Exodus der Alteingesessenen und der wohlhabenden Familien, die sich nun in den neuen "Satellitenstädten" und Garten-Cities am Nil niederließen. Der Ausbau des Straßenbahnnetzes 1896 bis 1917 durch eine belgische Firma erleichterte es der kairener Gesellschaft, die Altstadt zu verlassen.

Eine rege Bodenspekulation mit Preissteigerungen um mehr als das Tausendfache innerhalb von 20 Jahren setzte ein, die Satellitenstadt Heliopolis wurde für mehrere hunderttausend Menschen gebaut, auch nördlich und westlich der Altstadt entstanden weiterhin Gebäude in einer mehr oder minder ununterbrochenen klassizistischen Form, jedoch mit sichtbarer Tendenz zur Vereinfachung der Elemente.

Zu Anfang der 50er Jahre änderte sich nach dem Abzug der Kolonialmacht und Erlangung der langersehnten politischen Unabhängigkeit fast schlagartig der Baustil. Begünstigt durch die rapide Zunahme der Bevölkerung fand der "Internationale Stil", ein ebenfalls aus Europa importiertes Gedankengut, weit und breit kritiklose Anwendung. Dieser sogenannte "Internationale Stil", mit der Vereinfachung der Bauform und des architektonischen Ausdrucks und der Tendenz zum Immer-Höher-Bauen, die Anlage langer und breiter Straßen, der Import von neuesten Autos und Autobussen half nicht, die chaotischen Zustände Kairos zu meistern. Im Großraum Kairo wohnen heute 30—40% der Gesamtbevölkerung Ägyptens, vor hundert Jahren waren es höchstens 10%. Das "neue" Kairo, nach 1870 entstanden, existierte zunächst fast unabhängig vom alten. Seine Struktur und seine Architektur waren von Europa importiert. Trotzdem läßt sich erkennen, wie dieses neue Kairo ein wirklich schönes Exemplar europäischen Gedankenguts geblieben ist. Dieses Kairo zeigt, wie man es im 19. und zu Anfang dieses Jahrhunderts noch verstanden hat, "Städte" zu bauen und urbanes Leben zu schaffen. Aber seit etwa der Jahrhundertmitte veränderte sich vieles, es entstand ein drittes Kairo, das Kairo des "Modernen", das sich nicht eindeutig definieren läßt. Ein zusammenhängendes Stadtviertel im traditionellen Sinne existiert hier so gut wie gar nicht.

Literatur:
    • Mohamed Sharabi: Kairo – Stadt und Architektur im Zeitalter des europäischen Kolonialismus, Verlag Ernst Wasmuth, Tübingen 1989

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Die Kairoer Neustadt
von Dagmar Thesing
in 2 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 11—12/99, pp. 13—20

Im Rahmen meiner Magisterarbeit habe ich mich mit der Entwicklung, der Architektur und dem sozialen Bild der sogenannten Kairoer Neustadt, dem heutigen Stadtzentrum, befaßt. Die Redaktion des Papyrus hat mir die Möglichkeit gegeben, Ihnen in einer vierteiligen Reihe eine Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte und Ergebnisse meiner Forschungen vorzustellen. Hierzu werde ich in diesem und dem folgenden Teil einen historischen Überblick über die Entwicklung der Neustadt zwischen ihrer Gründung im Jahre 1869 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geben. Der dritte Teil beschäftigt sich dann mit dem sozialen Gefüge einer Kolonialgesellschaft. Im letzten Artikel sollen abschließend die Auswirkungen des europäischen Einflusses auf die ägyptische Wohnarchitektur beleuchtet werden.

Seit dem 19. Jahrhundert wuchs der Einfluß Europas auf Ägypten stetig an. Mit der Eroberung und Expedition Napoleons rückte das Land am Nil, das seit Jahrhunderten in seinen mittelalterlich-islamischen Herrschaftsstrukturen verharrt hatte, in das politische Interessenfeld der europäischen Mächte. Mit dem Bau des Suezkanals (1859—1869), durch den sich die strategische Lage und Bedeutung Ägyptens als Verbindungsglied zwischen Europa und Indien entscheidend veränderte, verstärkte sich insbesondere für die Kolonialmacht England dieses Interesse.

Eines der herausragenden Beispiele für den dominierenden Einfluß der europäischen Bevölkerung ist die sogenannte Kairoer Neustadt. Bestehend aus dem Bereich um den Azbakîya-Garten im Herzen Kairos, dem al-Ismâ'îlîya- und dem at-Taufîqîya-Viertel, schließt dieser Stadtteil westlich der im Mittelalter entstandenen islamischen Altstadt an und erstreckt sich bis zu dem Ostufer des Nils.

So besteht Kairo zum Teil auch heute noch aus zwei völlig unterschiedlich strukturierten Städten: der traditionellen arabischen Stadt und der nach europäischen Grundsätzen gestalteten Neustadt. Ihre Trennung zeigte sich auf verschiedenen Ebenen und vollzog sich architektonisch, funktionell und gesellschaftlich.

Die Entwicklung der Neustadt läßt sich zwischen ihrer Gründung im Jahre 1869 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in drei Phasen gliedern:

  • 1. Phase (1869 bis ca. 1885): Planung des al-Ismâ'îlîya-Viertels als vornehmes Villenviertel und Errichtung der ersten Bauten;
  • 2. Phase (ca. 1885 bis 1918): Ausbau von at-Taufîqîya und Einleitung des funktionellen Wandels von al-Ismâ'îlîya zum Wohn- zum Geschäftsviertel;
  • 3. Phase (1918 bis 1939): forcierter Ausbau der Neustadt zum städtischen Zentrum der Metropole Kairo.
1. Phase (zwischen 1869 und ca. 1885)

Planung und Beginn des Ausbaus von al-Ismâ'îlîya als Villenviertel
Der Khedive Ismâ'îl (1863—1879), neben Muhammad 'Alî (1805—1848) die markanteste Herrscherpersönlichkeit Ägyptens im 19. Jahrhundert, gab bald nach seinem Amtsantritt den Auftrag für die Planung und Umsetzung eines neuen Stadtteiles, der nach seinem Namen – al-Ismâ'îlîya – benannt werden sollte. Die Anregung für die Stadtgestalt erhielt er in Paris, wo er 1876 die Weltausstellung besuchte und die den auslösenden Impuls der Stadtgründung bildete.

Die Regierung Ismâ'îls, seine leichtsinnige Finanzpolitik, die ihm überdies den unrühmlichen Ruf eines Verschwenders einbrachte, ist gekennzeichnet durch das ehrgeizige und umfassende Projekt, mit dem er als gleichberechtigter Partner neben dem aufgeklärten Europa akzeptiert werden wollte. Zu diesem Zweck strebte er die Schaffung eines vom osmanischen Reich unabhängigen und nach dem Vorbild Europas orientierten Nationalstaates an. Dabei konnte er eine nahezu vollständige staatliche Souveränität durch eine Erhöhung des jährlichen Tributs an den Sultan erkaufen (Anm. 1).

Innenpolitisch bemühte Ismâ'îl sich um einen umfassenden Modernisierungsprozeß seines Landes. Um Ägypten an die wirtschaftliche Macht der westlichen Industriestaaten anzuschließen, lockte er europäische Unternehmer in sein Land, denen er freizügig gewinnbringende Monopole und Staatsaufträge übertrug. Darüber hinaus billigte er ihnen mit der Ausweitung der Kapitulationen (Anm. 2) eine Sonderstellung zu, die ihnen vollständige Autonomie von der ägyptischen Regierung garantierte.

Gleichzeitig arbeitete er intensiv an der infrastrukturellen Erschließung Ägyptens, ließ hierzu Brücken, Eisenbahnlinien, Schleusen und Kanäle bauen, den Suezkanal fertigstellen und Post- und Telegraphenstationen errichten.

Einige Reformen, wie die Aufhebung der Fronarbeit und die Einschränkung des Sklavenhandels mit dem Sudan, sollten dazu beitragen, Ägypten 'zivilisatorisch' an das mächtige Europa anzuschließen. Um das Bildungsniveau zu heben, förderte Ismâ'îl Wissenschaft und Kultur und gründete zu diesem Zweck Schulen und Universitäten.

All diese Maßnahmen trieben den Khediven schließlich in eine Verschuldung, über die er sehr bald die Kontrolle verlor. Ismâ'îl steuerte unaufhaltsam auf den Staatsbankrott zu und ebnete so den Weg für eine immer stärkere Einflußnahme der europäischen Mächte auf die Staatsangelegenheiten, die in der zunächst noch verschleierten Kolonialherrschaft Englands endete.

Ismâ'îl bewunderte die französische und italienische Kultur. Fasziniert von der Umgestaltung der französischen Hauptstadt unter Haussmann wollte er mit der Gründung seiner Neustadt ein 'Paris des Orients' schaffen. Hierzu beauftragte er zwischen 1869 und 1874 den französischen Landschaftsarchitekten Barillet-Deschamps, der sie nach den 'modernsten' europäischen Planungsgrundlagen entwickeln sollte. Es wurden die breiten, geraden und makadamisierten Straßen mit Trottoirs und die Bauparzellen angelegt, gleichzeitig erhielt das Viertel Gasbeleuchtung und eine Wasserversorgung.

In seiner Neustadt wollte er die europäische Finanz- und Gesellschaftselite und die reiche ägyptische Oberschicht versammeln. Die wohlhabende Bevölkerung lockte er mit niedrigen Grundstückspreisen, wobei die einzelnen Bauparzellen allerdings zu einem Gesamtkostenpreis von mindestens 30.000 Francs innerhalb einer festgesetzten Frist (18 Monate) bebaut werden mußten. Eine weitere Bedingung schrieb Ismâ'îl bezüglich der Bebauung vor, die sich an der klassizistischen Architektur orientieren sollte.

Um die Attraktivität seines Viertels zu erhöhen, ließ Ismâ'îl von Barillet-Deschamps den Azbakîya-Garten "den modernen Geschmacksrichtungen entsprechend (...) in französischen Geschmack" (Anm. 3) umgestalten. Daneben beauftragte er die beiden italienischen Architekten Avoscani und Rossi mit dem Bau eines Opernhauses. Außerdem ließ er von seinem aus Deutschland stammenden Hofarchitekten Julius Franz Pâshâ ein Theatergebäude, ein Komödienhaus, einen Zirkus und ein Hippodrom errichten. Um diese Bauten für die Festlichkeiten aus Anlaß der Einweihung und Eröffnung des Suezkanals (1869) schneller realisieren zu können, wurden sie, mit Ausnahme des Hippodroms, aus Holz errichtet. So konnten sie 1868 innerhalb von nur fünf Monaten fertiggestellt werden.

Allmählich entstanden um den Azbakîya-Garten, der mit dem Shepheard's Hotel seitdem das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens des neuen 'europäischen Stadtteiles' bildete, die ersten Villen, die sich vor allem europäische Bankiers und Kaufleute sowie die Pâshâs von europäischen Architekten dort erbauen ließen. Ihnen folgten schon bald Banken und Konsulate. Daneben ließ Ismâ'îl für sich und seine Familie in der Neustadt prunkvolle Paläste erbauen.

In der Folgezeit wurden in al-Ismâ'îlîya Hotels europäischen Standards gebaut, die sich ausschließlich in europäischem Besitz und unter europäischer Verwaltung befanden. Für die in Kairo ansässig gewordenen Europäer wurden Kirchen der verschiedenen Konfessionen, Synagogen, Schulen sowie zwei Krankenhäuser an der Shâri' 'Abdul-Châliq-Tarwat gebaut. Geschäfte, die europäische Waren anboten, konzentrierten sich zu dieser Zeit noch in der Umgebung des Azbakîya-Gartens sowie in der bereits unter Napoleon konzipierten Shâri' Al-Mûskî. Daneben waren der Buch-, Antiquitäten- und Kunsthandel sowie die Ateliers der Photographen bereits auch in der Neustadt vertreten.

Ismâ'îls Plan wurde nur teilweise realisiert. Auf dem dafür vorgesehenen Terrain al-Ismâ'îlîyas entstanden während der ersten Jahrzehnte nach dessen Gründung vergleichsweise wenige Villen, von denen so gut wie keine den funktionellen Wandel Neu-Kairos überdauert hat (Anm. 4). Ihre Architektur muß sehr schlicht und zurückhaltend gewesen sein, und die Fassaden wurden nur sparsam mit plastischem Schmuck ausgestattet. Anhand der Beschreibung Neu-Kairos von Franz Pâshâ läßt sich dieser Eindruck erhärten: "Um das Hippodrom und namentlich gegen Süden liegen Dutzende von Gebäuden, meist noch unvollendet, unseren einfachen Landhäusern ähnelnd, nur muß der nordische Fremde sich daran gewöhnen, alle ohne Dach zu sehen. Der Stil derselben, wenn überhaupt ein solcher eruiert werden kann, ist meist sehr einfach, nur äußerst selten wird etwas auf äußere Architektur verwandt. Es fehlt noch das Verständnis für Kunstformen und dieses kann nur allmählich mit der Bildung der fortschreitenden Zivilisation gewonnen werden." (Anm. 5)
Der Baedeker von 1877 urteilt nicht minder hart über diese ersten Wohnhäuser, indem er schreibt: "Besonders in architektonischer Hinsicht wurde nichts geleistet, doch machen immerhin einige Häuser eine rühmliche Ausnahme von der allgemeinen Schablone" (Anm. 6).

Von diesen Landhäusern sind zwei erhalten geblieben: eines liegt an der Shâri' Champollion (heute Schule) und eines – heute die Schweizer Botschaft – an der Shâri' 'Abdul-Châliq-Tarwat. Die Fassaden beider Villen, die beide um 1880 entstanden sind, sind äußerst schlicht und mit nur geringem plastischen Schmuck gestaltet.

Aus der damaligen Sicht europäischer Reisender und Architekten beeindruckte diese zurückhaltende und bescheidene Architektur vermutlich wenig. Für sie machten aller Voraussicht nach diejenigen Bauten "eine rühmliche Ausnahme von der allgemeinen Schablone" (Anm. 7), die sich aus dem umfangreichen Katalog vergangener Stile mit plastisch aufwendiger Fassadengestaltung bedienten.

Vor diesem Hintergrund muß man auch die Wiederentdeckung der traditionellen islamischen Architektur betrachten, eine Entwicklung, die nicht von der einheimischen Bevölkerung initiiert wurde, die ja zum größten Teil noch in dieser lebte, sondern von den europäischen Architekten, die auf Wunsch der ägyptischen Herrscher nach Kairo gekommen waren, um dort zu arbeiten. Sie verbanden die europäischen Vorstellungen von Wohnkomfort und Entwurfspraktiken der Architektur mit dem islamischen Stil, der größtenteils als Dekorationsmotiv in eklektizistischer Weise angewendet wurde. Dabei kam es selten vor, daß eine Villa ganz im Sinne dieses 'neoislamischen' Stiles errichtet wurde. Im allgemeinen sprach man dann von einem 'arabischen Stil', wenn am Außenbau Dekorationselemente der islamischen Architektur konsequent angewandt wurden, wie man es bei der Villa des Grafen Zogheb sehen konnte. Doch bezog sich dieser Stil sehr viel häufiger nur auf Teilbereiche der Fassaden (Anm. 8) oder man richtete einen Raum nach islamischen Vorstellungen ein (Anm. 9). Manchmal wurden auch einzelne Raumstrukturen übernommen, so die Qâ'a, der Hauptempfangsraum des arabischen Hauses, oder der Salâmlik, ein separater Bau, in dem die männlichen Gäste empfangen wurden (Anm. 10).

Julius Franz Pâshâ hatte mit seinem Entwurf des Gazîra-Palastes für den Khediven Ismâ'îl eine der vielen Möglichkeiten dieses 'neoislamischen Stiles' vorgeführt. Der Palast, der zwischen 1863 und 1868 aus Anlaß der Eröffnungsfeierlichkeiten des Suezkanals auf der gleichnamigen Nilinsel erbaut worden war, wurde bereits im Baedeker von 1877 als "wohl das schönste der modernen arabischen Gebäude Ägyptens" (Anm. 11) gelobt. Heute läßt sich der Prunk und der Luxus dieser Palastanlage, dessen klassizistische Gestaltung mit arabischen Dekorationselementen vermischt wurde, nur noch schwer nachempfinden, da für den Umbau in ein Hotel (heute Marriott) große Teile der Gebäude abgerissen und die restlichen stark verändert wurden.

Es ist nicht verwunderlich, daß dieser 'klassizistisch-islamische Stil', der durch diesen Bau von dem Khediven indirekt protegiert wurde, auf die ägyptische Elite übergriff. Dem Beispiel der Khedivenfamilie folgend ließen sich vor allem die hohen Minister Villen erbauen, die sich an diesem Stil orientierten. So auch der damalige Ministerpräsident Sharîf Pâshâ, der sich für den Bau seiner neuen Villa direkt an den Hofarchitekten Franz Pâshâ wandte. Das Gebäude, das um 1871 entstanden sein muß und deutlich die Handschrift des Architekten des Gazîra-Palastes trägt, befand sich vermutlich an der Shâri' Sheich Rîhân (Anm. 12).

Die Pläne der herrschaftlichen Villa des Sharîf Pâshâ zeigen, daß hier noch ganz die Bedürfnisse einer traditionellen moslemischen Familie der Oberschicht berücksichtigt wurden. Westliche Einflüsse dominieren zwar durch die z.B. klare, auf symmetrischen Gesetzen beruhende Raumaufteilung und Fassadengestaltung, doch ein wichtiges Element der arabischen Gesellschaft – die strenge Abtrennung der Frauenbereiche von den öffentlichen Lebensbereichen – wird in der Konzeption des Grundrisses auf Wunsch des Bauherrn bewahrt (Anm. 13). So befinden sich die Räume der Frauen im Obergeschoß, während die Zimmer des Hausherrn sowie die Empfangsräume im Erdgeschoß untergebracht sind.

Das Äußere dieser Villa ist plastisch sehr reich gestaltet. Das Gesamtbild der Fassaden, ihr Aufbau und die Plazierung des plastischen Schmuckes beruht – wie schon bei dem Gazîra-Palast – auf den Gesetzen des europäischen Klassizismus. Das Gebäude erhält allein durch ein paar islamisierte Ornamente einen leichten 'Touch' traditionell islamischer Bauten. So werden Sternornament, Stalaktiten, Zinnenkranz und Zwiebelkuppel wie Architekturzitate in eklektizistischer Manier mit europäischen Architekturelementen vermischt. Die Architekturkonzeption der Villa ist in ihrer Gesamtwirkung eindeutig auf Repräsentation ausgelegt, für die die typische Introvertiertheit und die äußere Abgeschlossenheit arabischer Häuser aufgegeben wird.

Auch wenn diese Villa erste Anzeichen eines Wandels der ägyptischen Gesellschaft erkennen läßt, bildete sie zu jener Zeit noch eher eine Ausnahme. Der allmählich einsetzende Verwestlichungsprozeß konzentrierte sich zunächst im wesentlichen auf die technischen und wissenschaftlichen Bereiche und beschränkte sich auf die turko-tscherkessische Führungsschicht Ägyptens. Für die meisten wohlhabenden Ägypter bestand noch keine Veranlassung, ihre Wohnhäuser in der Altstadt zu verlassen.

So nahm in dieser Entwicklungsphase der Neustadt der Traum Ismâ'îls Gestalt an: die 'Modernisierung' seiner Hauptstadt durch die Kreierung seines repräsentativen Stadtviertels. Mittels dieser, glaubte er, würde er als gleichberechtigter Partner vom mächtigen Europa akzeptiert werden.

Anmerkungen
    • Anm. 1 
      Diese staatliche Souveränität bezieht sich u.a. auf die Primogenitur, auf den Titel "Khedive" (= Vizekönig), die Aufstockung seiner Armee, das Münzrecht, außenpolitische Vertragsrechte sowie das Recht zur Aufnahme von Krediten. Letztes sollte für den Khediven und sein Land noch zum Verhängnis werden. Vgl. Mommsen, Wolfgang: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung, 1805—1956; München 1961; S. 26; Schölch, Alexander: Ägypten den Ägyptern! Die politische und gesellschaftliche Krise der Jahre 1878—1882 in Ägypten; Zürich/Freiburg i.Br. o.J.; S. 25; Schamp, Heinz (Hrsg.): Ägypten. Das alte Kulturland am Nil auf dem Weg in die Zukunft; Tübingen/Basel 1977; S. 194f.
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    • Anm. 2 
      Bei den Kapitulationen handelt es sich allgemein um "Verträge europäischer Mächte mit orientalischen Staaten, in denen vor allem die Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates zugunsten der Personalhoheit des fremden Staates in bezug auf seine Vertreter und Angehörigen durchbrochen wurde. (... ) Die wichtigsten Bestimmungen betreffen freie Religionsausübung, Konsulargerichtsbarkeit, Freiheit der Niederlassung, des Verkehrs, des Handels und der Schiffahrt." (Fuchs/Raab: dtv-Wörterbuch zur Geschichte, Bd. 1, München 1990; S. 403).
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    • Anm. 3 
      Franz Bey, Julius: Cairo's Neubauten (1871); in: Zeitschrift für praktische Baukunst, Nr.31; Berlin 1871; S. 194.
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    • Anm. 4 
      Die ersten Villen wurden bereits während des Baubooms zwischen 1897 und 1907 abgerissen. Doch der größte Teil fiel den Auswirkungen der Liberalisierung der ägyptischen Wirtschaft während der 70er Jahre zum Opfer Vgl. Scharabi, Mohamed: Kairo – Stadt und Architektur im Zeitalter des europäischen Kolonialismus; Tübingen 1989, S. 97.
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    • Anm. 5 
      Franz Bey, op.cit.; S. 196f.
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    • Anm. 6 
      Baedecker, Karl: Ägypten und Sudan, 8. Auflage, Leipzig 1877, S. 278.
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    • Anm. 7 
      Quellenangaben unter Anm. 6.
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    • Anm. 8 
      So wunden das Stalaktitenmotiv als Fries oder bei Fenstereinfassungen, der Zinnenkranz entlang des Dachfirstes, Mashrabîya-ähnliche Holzvergitterungen bei Balkonen und Minarette in Gebäudeecken angewendet.
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    • Anm. 9 
      Im vermutlich zwischen 1890 und 1896 erbauten Sakâkînî-Palast (heute Museum), dessen Fassaden und Empfangshalle in einem prunkvollen neobarocken Stil gestaltet sind, ließ der Bauherr im Obergeschoß einen intimen Salon im türkischen Stil einrichten. Vgl. Scharabi, op.cit.; S. 330; Ilbert/Volait: Neo-Arabic Renaissance in Egypt, 1870—1930; in: Mimar XIII (1984); S. 31.
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    • Anm. 10 
      Z.B. wurde das Vestibül in einigen Villen in dem 1906 gegründeten Vorort Heliopolis wie eine Qâ'a gestaltet. Und der Salâmlik gehörte bis in die 20er Jahre hinein bei den großen Palastbauten zum festen Bestandteil. Vgl. Ilbert/Volait, op.cit.; S. 30; Volait, Mercedes: Architectures entre orient et occident in: Le Caire – autrement hors-série, No. 12, 1985; S. 271f.
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    • Anm. 11 
      Baedeker, op.cit.; S. 339.
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    • Anm. 12 
      Aus alten Stadtplänen geht hervor, daß diese Villa vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts abgerissen wurde.
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    • Anm. 13 
      Vgl. Franz Bey, op.cit.; S. 325.
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Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 1—2/2000, pp. 25—32

2. Phase (zwischen ca. 1885 und 1917): Ausbau von at-Taufîqîya und erste Großbauten
    in al-Ismâ'îlîya

Die zweite Entwicklungsphase der Neustadt ist gekennzeichnet durch die Schuldenlast Ägyptens und dem Beginn der britischen Kolonialherrschaft. Der Übernahme der ägyptischen Regierungsangelegenheiten durch die Briten ging eine von den europäischen Mächten eingerichtete Zwangsschuldenverwaltung voraus, in der noch unter Ismâ'îl eine europäische Schuldentilgungskommission eingesetzt wurde, die am 18. November 1876 in der Caisse bzw. Dual Control gesetzlich Gestalt annahm. Mit dieser Regelung versuchten europäische Fachleute, das finanzielle Chaos Ägyptens durch extreme Sparmaßnahmen und vorzeitige Steuereintreibungen in den Griff zu bekommen. Dieses mitunter rigorose Vorgehen und die durch Ismâ'îls Steuerpolitik ausgelöste Verschuldung eines Großteils der Bevölkerung gegenüber europäischen Gläubigern und Geldverleihern schürten den Haß gegen die von der Regierung bevorzugten Europäer und die dem Land aufgezwungene europäische Verwaltung. Im 'Urâbî-Aufstand (1881), in dem sich erstmals ein aufkeimendes Nationalbewußtsein zeigte, entlud sich die Unzufriedenheit des geknechteten Volkes. Um im Land wieder 'Ruhe und Ordnung' herzustellen, sah sich England gezwungen, militärisch einzuschreiten. Unter dem Vorwand, die in Ägypten lebenden Europäer zu schützen, bombardierte die englische Flotte am 11. und 12. Juli 1882 Alexandria und am 14. September drang die Armee kampflos in Kairo ein.

Um die Herrschaft im Land zu etablieren und zu konsolidieren, unterstützte England in Kairo nicht nur den Aufbau einer eigenen Verwaltung, sondern lockte auch auf wirtschaftlicher Grundlage Ausländer aus allen Teilen Europas nach Ägypten, indem den Europäern die auf den Kapitulationen gestützten Sonderrechte weiterhin zugesprochen wurden. So wollten die Briten verhindern, daß der Handel in Kairo und damit eine Kapitalanhäufung in ägyptische Hände fiel.

Durch ein rigoroses Sparprogramm der englischen Verwaltung konnte allmählich ein wirtschaftlicher Aufschwung erreicht werden. Dabei konzentrierte sich England größtenteils auf die Agrarwirtschaft, indem man den Baumwollanbau entscheidend förderte. Daneben wurde der Markt für britische Industrieprodukte geöffnet, während ein Industrialisierungsprozeß im Land selbst gehemmt wurde. Begleitet wurde das Wirtschaftswachstum von einer Reihe von ausländischen Bankgründungen, die im wesentlichen den Außenhandel, bei dem der Export der Baumwolle an der Spitze stand, finanzierte. So brachte auch der Baumwollboom von 1903 die wirtschaftliche Legitimation der Politik Lord Cromers, der als britischer Generalkonsul in diesen Jahren die Kontrolle über Ägypten in den Händen hielt.

Ein großer Teil des aus dem Baumwollhandel gewonnenen Kapitals wurde in den Bausektor investiert, der dadurch – abgesehen von der Landwirtschaft – zum bedeutendsten Wirtschaftszweig in Ägypten aufsteigen konnte. Die Baubranche wurde zum Spekulationsfeld großer europäischer Gesellschaften, die enorm hohe Summen ihres aus dem Ausland bezogenen Kapitals in den Bau von Bürogebäuden, Geschäfts- und Apartmenthäusern investierten. Diesem Bauboom folgte sehr schnell eine Inflation der Bau- und Bodenpreise.

Für Kairo bedeutete die britische Okkupation und damit der einhergehende Ausbau der Hauptstadt als Verwaltungszentrum einen enormen Bevölkerungsanstieg. Dabei ist zwischen 1897 und 1907 ein für die Expansion Kairos einzigartiger Ausländerzustrom besonders auffällig, von dem ein großer Teil aus Südeuropa kam. 1907 zählte die europäische Gemeinde 47.751 Einwohner, die entweder aus Griechenland, Italien, Frankreich oder England stammten (Anm. 1). Dabei wurden die Ausländer durch die wirtschaftlichen Erfolge angezogen, die die Regierung der 'neuen', verdeckten Kolonialherrschaft erreichen konnte und die damit eine gewisse wirtschaftliche Stabilität garantierte. Zu dieser Zeit umgab Ägypten der Mythos eines 'zweiten Amerika', in dem man mit Spekulationsgeschäften zu schnellem Reichtum gelangen konnte und der erst durch den Börsenkrach von 1907 schwand. So kamen verstärkt Unternehmer und Geschäftsleute in die Hauptstadt. Die Wettbewerbsvorteile, die ihnen durch die Kapitulationen garantiert wurden, ermöglichten ihnen sehr bald die Beherrschung des ägyptischen Marktes. Daneben boten sich auch u.a. für Ärzte, Architekten, Ingenieure und Anwälte gute berufliche Chancen.

Fassade Undurchbrochene Dachbrüstung
schmales, geschoßtrennendes Gesims
Gebäudekanten als Pilaster mit
Bossenwerkschaft
schmales, geschoßtrennendes Gesims
Fenster mit einfacher profilierter
Rahmung und Verdachung
Balkone zur Betonung
der Mittelachse

schmales geschoßtrennendes Gesims

Kolonnade
Abb. 1: Das Wohn- und Geschäftshaus an der Shâri' al-Gumhûrîya zeigt den charakteristischen Fassadenaufbau der zwischen 1885 und 1917 entstandenen Bauten der Neustadt
(Ansicht aus Scharabi: Kairo, 1989: Fig. 8)

Sowohl die Zunahme der europäischen Gemeinde in Kairo als auch der Ausbau der Handelsbeziehungen mit Europa zeigte die Notwendigkeit, adäquate Mietshäuser und Geschäftsräume zu errichten. Der enorme Bevölkerungszustrom aus dem europäischen Ausland konnte nicht mehr in der Altstadt aufgefangen werden.

Darüber hinaus entsprachen die traditionellen islamischen Stadtteile mit ihrer dichten Bebauung und den dunklen Gassen und Wohnräumen nicht den Ansprüchen der europäischen Einwanderer. Ihr Raumbedarf löste eine rege Bautätigkeit aus, die in dem Bauboom zwischen 1897 und dem Jahr der Finanzkrise 1907 gipfelte.

Zu jener Zeit entstanden in der Neustadt zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser. Dabei sind gerade zu Anfang des Baubooms kleinere Bauprojekte charakteristisch. Die Bauten wurden von Architekten aus Europa (fast ausschließlich aus Italien oder Frankreich) entworfen und von großen Bauunternehmen, die ebenfalls in der Mehrzahl in europäischen Händen lagen, ausgeführt. Ihre Architektur ist dementsprechend überwiegend von einem südeuropäischen Klassizismus geprägt.

Kennzeichnend für diese meist kleineren, drei bis vier Stockwerke hohen Wohn- und Geschäftshäuser oder für die größeren Hotels ist eine äußerst flächig gestaltete Fassade, die durch ein striktes horizontal aufgebautes Gliederungssystem gekennzeichnet ist (Abbildung 1). Nur selten wird sie durch einen Erker bzw. einen Risalit oder durch Balkone und Loggien rhythmisiert.

Diese insgesamt zurückhaltende und bescheiden bearbeitete Gestaltung des Außenbaus zeigt sich auch im Fassadenschmuck: Die Stuckarbeiten sind filigran und mit geringer Plastizität auf die Außenhaut der weitgehend verputzten Bauten gelegt. Dieser Eindruck von 'Zartheit' wird durch die ebenfalls fein gearbeiteten schmiedeeisernen Balkonbrüstungen erhöht.

Neben dem Bau von Wohn- und Geschäftshäusern sowie Hotels entstanden in der Neustadt auch städtische Einrichtungen, die vor allem auf die Bedürfnisse und Anforderungen der ausländischen Bevölkerung sowie der Reisenden abgestimmt waren. So wurde das Reisen in Ägypten durch den Bau vier neuer Bahnhöfe in zentraler Lage um den Bâb al-Hadîd erleichtert.

Außerdem wurden neue Restaurants, Bierstuben, Clubs und Cafés eröffnet, und die großen Banken bauten sich zunehmend ihre eigenen Häuser. Weitere Gotteshäuser, Schulen sowie die Kairoer Universität (heute die Amerikanische Universität) wurden errichtet. Zwischen 1897 und 1902 entstand auf dem nördlich der Kasernen liegenden Gelände das 'Ägyptische Museum', das wohl zu den größten und kostspieligsten Neubauten jener Zeit gehörte. Daneben wurden zahlreiche Vereine, Kulturinstitute und Theater gegründet. Mit der Einführung von öffentlichen Verkehrsmitteln, wie Omnibussen und elektrischen Straßenbahnen, wurden die neu entstehenden Siedlungen am Stadtrand mit dem Zentrum, der Neustadt, verbunden.

All diese baulichen Maßnahmen führten dazu, daß die Neustadt immer mehr den Charakter einer europäischen Großstadt erhielt. Die Siedlung, die zu diesem Zeitpunkt insgesamt geschlossener wurde, entwickelte sich zunehmend von einer Villenkolonie zu einem städtischen Zentrum mit den entsprechenden Geschäfts- und Verwaltungsinstitutionen.

3. Phase (1917—1939): Ausbau der Neustadt zur City

Die Stadtentwicklung Kairos war besonders zwischen 1917 und 1927 von einem enormen Bevölkerungszuwachs gekennzeichnet. Mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 3,5% wuchs die Stadt von ca. 790.000 Einwohner auf über 1 Million. Dieser enorme Zuwachs ist einerseits auf das natürliche Bevölkerungswachstum, andererseits auf eine umfangreiche innere Migration zurückzuführen. Zusätzlich erreichte Kairo eine weitere Einwanderungswelle, vor allem aus den vier europäischen Staaten Griechenland, Italien, England und Frankreich. Die Zahl war am Ende der 20er Jahre auf 59.450 Einwohner angestiegen.

Ein wesentlicher Grund für dieses explosionsartige Wachstum der Hauptstadt in den 20er Jahren war der Ausbau der britischen Streitkräfte in Ägypten nach Ende des Ersten Weltkrieges. Ägypten, das zu diesem Zeitpunkt noch britisches Protektorat war, wurde nun vollends zum Fundament englischer Machtstellung, dem eine weitere Aufstockung des Personals mit den entsprechenden Verwaltungseinrichtungen folgte. Dies machte Kairo nicht nur für einen Großteil der Landbevölkerung interessant, die sich dort ein umfangreicheres Arbeitsplatzangebot und bessere wirtschaftliche Zustände erhoffte, auch für Europäer wurde das Land mit seiner Hauptstadt wieder attraktiver. Ihre Aktivitäten konzentrierten sich auch künftig auf den Export- und Importhandel sowie auf den unternehmerischen Bereich. Auch genossen sie noch immer die Privilegien, die den Ausländern durch die Gemischten Gerichtshöfe in den Kapitulationen und die militärische und politische Überlegenheit der Briten zugestanden wurden, und die ihnen weiterhin enorme Vorteile gegenüber den jeweiligen einheimischen Konkurrenzzweigen verschaffte.

Diese Wettbewerbsvorteile führten innerhalb der ägyptischen Bevölkerung selbstverständlich zu Neid und vereinten im wiederauflebenden Kampf um die nationale Unabhängigkeit die einheimische Bourgeoisie mit den unteren Schichten, den Fellachen, Handwerkern und Händlern. Die englandfeindliche Stimmung im Land stieg, und die von der nationalen Bewegung immer dringlicher geforderte staatliche Souveränität Ägyptens, die in Sa'd Zaghlûl ihren charismatischen politischen Führer gefunden hatte, griff auch auf den wirtschaftlichen Bereich über. So forderten z.B. radikale Nationalisten den Boykott britischer Waren, Handelshäuser und Geldinstitutionen. Dennoch wurde die ursprünglich aus europäischen Staaten stammende Bourgeoisie von radikalen Maßnahmen seitens der nationalen Strömungen weitestgehend verschont. Ihre wirtschaftliche Vormachtstellung blieb auch zwischen den beiden Weltkriegen unangefochten. Letztendlich wurde sie sogar von der neuen ägyptischen Regierung unterstützt (Anm. 2), da man innerhalb der führenden politischen Kreise der Meinung war, daß eine wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens ohne europäisches Know-how und ohne europäisches Kapital nicht möglich sei.

In den 30er Jahren machte sich die weltweite Depression der Wirtschaft, 1929 durch den New Yorker Börsenkrach ausgelöst, zwangsläufig auch in Ägypten bemerkbar. Die ägyptische Baumwolle, Ägyptens wichtigstes Exportgut, erlitt einen Wertverlust von 60 bis 65% auf dem Weltmarkt. Dieser enorme Preisverfall der Baumwolle und der durch ihn ausgelöste Konjunkturrückgang veranlaßte die Großgrundbesitzer und Unternehmer Ägyptens, nun in den lange Zeit stark vernachlässigten Aufbau eines industriellen Sektors zu investieren, wobei der Schwerpunkt zunächst auf die Importe ersetzenden Industriezweige gelegt wurde. Neben der etablierten Industrie, die mit der Aufbereitung und Verarbeitung der Baumwolle zusammenhing, konzentrierten sich die Unternehmer Ägyptens auf die Nahrungsmittel- und Textilindustrie sowie auf die Baustoff- und Zigarettenherstellung.

Doch die Zahl der Arbeitslosen in der einheimischen Bevölkerung stieg in Ägypten weiterhin. Besonders schwer davon getroffen wurden vor allem die Universitätsabsolventen, deren Zahl aufgrund der vielversprechenden Arbeitsplatzsaussichten in der ersten Hälfte der 20er Jahre gestiegen war. Ihre Unzufriedenheit kanalisierte sich in politischen Aktivitäten: in Demonstrationen, der Verteilung von Flugblättern und schließlich in Attentaten.

Aber zunächst lockte der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Ersten Weltkrieg sowohl die inländische als auch eine ausländische Bevölkerung nach Kairo. Während der große Strom der zugezogenen Landbevölkerung sich in der Altstadt niederließ, bevorzugten die europäischen Immigranten die Wohnquartiere der westlichen Stadt und die grünen Vororte wie Heliopolis oder Ma'âdi. So lebten 1927 allein 46.977 Ausländer und nicht zur moslemischen Gemeinde gehörende Ägypter (u.a. Kopten, Juden) und nur 21.267 Moslems in Azbakîya, d.h. 68,8% der in Azbakîya lebenden Einwohner Kairos stammten zum größten Teil aus Europa.

Die wirtschaftliche Blütezeit in Verbindung mit dem beachtlichen Zustrom der ausländischen Bevölkerung löste in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre ein zweites Mal in der Geschichte der Neustadt eine rege Bautätigkeit aus. Wieder mußte eine Vielzahl neuer Geschäfts- und Wohnräume geschaffen werden. Gerade in dieser Zeit erhielt Neu-Kairo seine "endgültigen Gesichtszüge (...). und zwar weitgehend im Sinne eines für uns geläufigen Historismus" (Anm. 3). Eine enorme Stilvielfalt zeigt sich noch heute in den Straßen dieses Viertels, die von den europäischen Stilen der Neorenaissance, des Neobarocks, des Jugendstils, des Neoklassizismus, von Art Deco, Expressionismus usw. geprägt sind. Die Neustadt wurde mehr und mehr zum städtischen Zentrum von Groß-Kairo ausgebaut. Dabei entstand gerade in al-Ismâ'îlîya eine erhebliche Anzahl von Großbauten, wobei auch die Geschoßzahlen zunahmen. Diese Tendenz zum immer höheren Bauen zeigte sich besonders deutlich bei den Wohn- und Geschäftshäusern.

Fassade Über Dachebene heraustretende
Risalitbekrönung und Kuppel
an der Straßenkreuzung
durchlaufende Galerie
auf Konsolen gestützt
Wechsel zwischen Risalit
und Balkonen
durchlaufender Balkon
Sockelgeschoß mit Bossenwerk
Abb. 2: Typische Fassade der 3. Stadtbauphase  

Für eine Vielzahl dieser Bauten ist eine sehr plastische Gliederung der Fassade charakteristisch, die wesentlich zur Gestaltung des Straßenraumes beiträgt. Dabei wird eine vertikale Rhythmisierung der Fassade in den meisten Fällen durch Risalite erreicht, die in der Dachzone mit portalartigen Aufbauten – häufig mit Kuppelabschluß – akzentuiert werden (s. Abbildung 2). Ein horizontal umlaufender Balkon, der über dem ein- bis dreigeschossigem Sockelgeschoß die Geschäftszone von den eigentlichen Wohngeschossen trennt, und Loggien im oberen Geschoßbereich fassen die Risalite optisch zusammen und erhöhen gleichzeitig die Tiefenwirkung des gesamten Straßenraumes. Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Fassaden sind die zahlreichen Balkone. Mit dieser starken Plastizität der einzelnen Bauelemente (Risalite, Balkone sowie Loggien) und einer reichen Dekoration der Fassade in den verschiedenen europäischen Stilen wird ein effektvolles Licht-Schattenspiel inszeniert. Häufig werden auch exportierte städtebauliche Situationen (Straßenkreuzung, Platzlage) z.B. mit einer Kuppel architektonisch betont.

In der Neustadt konzentrierten sich auch weiterhin die städtischen Einrichtungen, die die 'Kolonialgesellschaft' für ihren eigenen Komfort und ihren Handel beanspruchte, die aber auch vom frankophilen Teil der ägyptischen Bevölkerung genutzt wurde. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg konnte man in den neuen Einkaufsbereichen von al-Ismâ'îlîya und at-Taufîqîya sowohl Schneider, Herrenausstatter, Handschuhverkäufer, Damen- und Herren-Hutmacher als auch englische Buchhändler, Zigarrenimporteure, Konditoreien, griechische und deutsche Brasserien, französische Cafés, Blumengeschäfte, Photographen, Friseure, Sattler und Mietpferdeställe, Reisebüros, Arzt- und Anwaltspraxen finden. Der Einzelhandel wurde während der 20er und 30er Jahre erweitert und das Angebot noch breiter gefächert und spezialisiert. Zusätzlich haben die großen europäischen Kaufhausketten neue Filialen in der Neustadt errichtet. Seit den 30er Jahren tauchten auch immer mehr Kinos im Stadtbild auf. Daneben entstand eine nicht geringe Anzahl von Repräsentationsbauten wie der Neubau des Hauptgebäudes der Bank Misr in der Shâri' Muhammad Bek Farîd und zahlreiche weitere Bankgebäude, die sich überwiegend in al-Ismâ'îlîya konzentrierten. Hinzu kam die Einrichtung weiterer Schulen, Ämter, Gesellschaften und verschiedener Vereine sowie der Neubau des 'Tribunaux mixtes' an der Shâri' 26. Yûlîya.

Der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes – die elektrische Straßenbahn und die Schnellbahn (die im allgemeinen Sprachgebrauch 'Metro' genannt wird) – war bereits vor dem Ersten Weltkrieg fast vollständig abgeschlossen. 1931 wurden nur noch zwei Linien dem bestehenden Netz zugefügt. Zu diesem öffentlichen Massentransportmittel kam nach dem Krieg der private motorisierte Verkehr hinzu. Dieser Anstieg des Automobilverkehrs seit den 20er Jahren, der durch die Konzentration der städtischen Einrichtungen in der Neustadt bereits in der darauffolgenden Dekade die ersten Verkehrsprobleme auslöste, stellt auch heute noch die größten Anforderungen an die Verkehrsplaner.

Seit ihrer Gründung wurden in der Neustadt Ansprüche und Bedürfnisse einer landfremden europäischen Gesellschaft berücksichtigt. Dies spiegelt sich deutlich in ihrer Entwicklung, ihrer Physiognomie und ihren urbanen Funktionen wider, die sich grundsätzlich von denen der mittelalterlichen Stadtteile unterschied. So zeigt Kairo seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei völlig verschiedene Stadtbilder, deren Trennung sich sowohl optisch-räumlich als auch sozial-ökonomisch und somit funktional vollzog. Beide Stadtteile übten darüber hinaus unabhängig voneinander ihren eigenen Reiz auf die Reisenden aus. Kaufmann schildert – wohl etwas romantisiert – die Andersartigkeit beider Stadtteile:

"Wie die Muski das Bild gibt des Kairo des Orients und der Vergangenheit, so bietet die Scharia Kamel, die am Ezbekije-Garten entlang an den weltberühmten Hotels Shepheard und Kontinental vorüber zum Opernplatz führt, das Bild des Kairo von heute. Nirgends in anderen orientalischen Städten ist beides so unmittelbar nebeneinander, nirgends das eine so großartig wie das andere. Es sind zwei Städte, völlig verschieden in ihrem Charakter und doch in einer Stadt vereint, zwei Welten, im Grund gegensätzlich, die sich aber doch verstehen und vertragen. Es ist nicht die eine die Stadt der Arbeit und die andere die des Genusses; beide sind Städte der Arbeit und des Genusses zugleich, nur das sowohl die Arbeit wie der Genuß hier wie dort verschieden gestaltet sind, aber den verschiedenen Menschen entsprechend beiden das bieten, was sie brauchen." (Anm. 4)

 

Anmerkungen:
    • Anm. 1 
      Konkrete Zahlen über die in Kairo lebenden Ausländer liefern:
      Owen, Roger: The Cairo Building Industry and the Building Boom of 1887 to 1907; in: Colloque International sur l'Histoire du Caire, Cairo 1969, S. 337.
      Baer, Gabriel: Studies in the social history of modern Egypt, Chicago 1969, S. 144;
      Abu-Lughod, Janet: Cairo. 1001 Years of the City Victorious, New Jersey 1971, S. 122;
      Tignor, Robert L.: State, Private Enterprise and Economic Change in Egypt, 1918—1952, Princeton NJ 1984. Tabelle Al bis A4.
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    • Anm. 2 
      1922 erhielt Ägypten nach Vorbild Großbritanniens eine konstitutionelle Monarchie, wobei die Briten sich durch die sogenannten Reservatrechte eine ständige politische Einflußnahme in die staatlichen Angelegenheiten des Landes ermöglichten. Vgl. Mommsen, Wolfgang: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805—1956. München 1961: S. 91—95; Schamp, Heinz (Hrsg.): Ägypten. Das alte Kulturland am Nil auf dem Weg in die Zukunft. Tübingen/Basel 1977; S. 210f.
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    • Anm. 3 
      Scharabi. Mohamed: Kairo – Stadt und Architektur im Zeitalter des europäischen Kolonialismus: Tübingen 1989: S. 186.
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    • Anm. 4 
      Kaufmann. Alfred: Ewiges Stromland. Land und Mensch in Ägypten; Stuttgart 1928; S. 111f.
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Literaturhinweise:
    • Abu-Lughod, Janet: Cairo. 1001 Years of the City Victorious, New Jersey 1971
    • Aldridge, James: Cairo; London 1969
    • Baer, Gabriel: Studies in the social history of modern Egypt, Chicago 1969,
    • Ilbert, Robert / Volait, Mercedes: Neo-Arabic Renaissance in Egypt, 1870—1930; in: Mimar XIII (Nov. 1984): S. 26—34
    • Kaufmann. Alfred: Ewiges Stromland. Land und Mensch in Ägypten; Stuttgart 1928
    • Mommsen, Wolfgang: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805—1956. München 1961
    • Owen, Roger: The Cairo Building Industry and the Building Boom of 1887 to 1907; in: Colloque International sur l'Histoire du Caire, Cairo 1969, S. 337—350
    • Schamp, Heinz (Hrsg.): Ägypten. Das alte Kulturland am Nil auf dem Weg in die Zukunft. Tübingen/Basel 1977
    • Scharabi. Mohamed: Kairo – Stadt und Architektur im Zeitalter des europäischen Kolonialismus: Tübingen 1989
    • Tignor, Robert L.: State, Private Enterprise and Economic Change in Egypt, 1918—1952, Princeton NJ 1984
    • Volait, Mercedes: Architectures entre orient et occident, in: Le Caire – autrement hors-série, No. 12, 1985, S. 162—167

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Auf der Suche nach Heilung: Tuberkulosekranke Europäer in Ägypten
Dr. Rudolf Agstner gewidmet

von Elke-Pflugradt-Abdel Aziz

Papyrus-Logo Nr. 11—12/94, pp. 56—60

Forscher, die sich mit Kolonialarchitektur in Übersee beschäftigen, fragen sich oft, was gerade diese europäischen Architekten dazu bewogen haben mag, in jenes exotische Land zu gehen. Nur in den seltensten Fällen bieten Quellen ausreichendes Informationsmaterial. Im Allgemeinen verweist dann der Forscher auf die überschwemmten Arbeitsmärkte im Europa des 19. Jhs. und erklärt, daß sich der Architekt gezwungen sah, sein Glück woanders zu versuchen. Europäer in Ägypten konnten aber eine ganz andere Motivation gehabt haben, sich in diesem Land aufzuhalten oder dort sogar tätig zu werden: Der Hesse Julius Franz, der unter dem Vizekönig Ismail Pascha zum Oberbaudirektor aufstieg, kam bereits im Alter von 24 Jahren, 1855, nach Ägypten – aus gesundheitlichen Gründen.

Schon der Arzt A. Cornelius Celsus der römischen Kaiserzeit empfahl den Aufenthalt in der Stadt Alexandria, der dann bis zu Beginn unseres Jahrhunderts in der Tuberkulosetherapie als heilkräftig angesehen wurde. Dabei ist besonders dem Klima als erstem Faktor in der Krankheitsgenese Bedeutung beigemessen worden. Auf erste Tabellen mit Meßwerten zum Wetter in den verschiedensten Orten Ägyptens, die von den wissenschaftlichen Mitgliedern der napoleonischen Expedition erstellt wurden, folgten eingehendere Untersuchungen, so vom bayerischen Internisten Franz Pruner (1808—1882). In seiner 1847 veröffentlichten "Topographie medicale du Caire" ging er von der theoretischen Grundlage aus, daß der Mensch sowohl physisch wie auch psychisch von seiner Umgebung abhängig sei. Daraus würden sich dann von selbst die Folgerungen über seine krankhaften Verhältnisse ableiten. Pruners Äußerungen lassen damit die progressive Tendenz zu, die Entwicklung des Menschen aus naturgegebener Gesetzmäßigkeit zu definieren, zugleich aber wird es möglich, die Theorie von der Ungleichheit der Völker und Rassen, die in unterschiedlichen Klimata leben, als vorgegeben zu rechtfertigen (Milieutheorie). In diesem Zusammenhang sind seine anthropologischen Studien zu verstehen, in denen er auf schönen Zeichnungen Portraits aus den Gräbern Thebens mit denen der zeitgenössischen ägyptischen Bevölkerung vergleicht, so mit "einem Eseltreiber, einem Diener, einem Bauernweib und einer modernen Mischform". Er gelangt zu der Feststellung, daß noch heute der pharaonische Typus im Bewohner des Niltals wiederzufinden sei.

Während seiner 12jährigen Tätigkeit in Ägypten übte Pruner verschiedene Positionen aus: als Leibarzt von Abbas I., als Professor der Anatomie 1832 an der medizinischen Schule und als Direktor der Zentralkrankenhäuser in Kairo von 1834 bis 1839. Also schon vor Regierungsantritt des ägyptischen Herrschers Abbas I. (Regierungszeit 1848—1854; unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen) war dieser deutsche Arzt in seinen Diensten. Dies war insofern ungewöhnlich, als die medizinische Schule und alles, was damit zusammenhing, fest in französischer Hand war. Clot-Bey war ihr Direktor und Gründer und etablierte so die westliche Medizin in Ägypten, er wußte seine Position auch politisch zu nutzen. Unter Abbas I. sollte sich dies ändern. Eben politisch unambitioniert gelang es dem Deutschen Wilhelm Griesinger, dieses Monopol für zwei Jahre, genau von 1850—1852, zu durchbrechen, bis er dann ohne den entsprechenden Rückhalt seiner Botschaft im internationalen Intrigenspiel aufgeben mußte. Abbas I. hatte ihn mit Ämtern überhäuft: Er war nicht nur der Direktor der Schule für Medizin, sondern auch der Präsident der Sanitätskommission und nebenbei Leibarzt dieses Herrschers gewesen. Allerdings verließ Griesinger nach kurzer Zeit entnervt das Land am Nil, während sein Assistent Bilharz blieb.

In dieser anti-französischen Politik spielte gerade ein Franzose eine große Rolle, der die deutschen bzw. deutschsprachigen Ärzte um sich sammelte: Soliman Pascha alias Joseph Anthelme Sève (1788—1860). Vom einfachen Leutnant in der französischen Armee war er unter Muhammad Ali zum Generalmajor und -inspekteur aufgestiegen. Vor seinem Palast in Altkairo posieren die Herren

  • Dr. A. Reyer, Professor der Chirurgie und Direktor der medizinischen Schule
  • Dr. Lautner-Bey, Hausarzt Soliman Paschas und Arzt am Kriegsministerium
  • Dr. Th. Bilharz, Professor der Anatomie an der medizinischen Schule

und lassen sich so für die Nachwelt auf Photos, Aquarellen und Gemälden verewigen. Zu diesem Kreis gehörte der oben erwähnte Hofarchitekt Julius Franz, zunächst als Patient von Bilharz und später als Schwiegersohn Lautner-Beys, dessen Tochter Olga er in zweiter Ehe heiratete. Fast jeden Nachmittag und auch noch abends trafen sie sich im Palast Soliman Paschas, wo die Familie Reyer ihre Wohnung hatte. Mit dem Tod des Generals, dessen Mausoleum noch heute in Altkairo besichtigt werden kann und das nur folgerichtig ein deutscher Architekt aus der Schinkelschule, Carl von Diebitsch, für ihn erbaut hat, löste sich der Freundschaftskreis auf. Reyer, der für sich selbst keine Perspektive mehr in diesem Land sah, ging nach Österreich zurück. Und auch Lautner. Kurz vor diesen Geschehnissen kam noch ein Arzt aus Halle hinzu, ein gewisser Wilhelm Reil (1820 Schönwerda/Thüringen bis 1880 Heluan).

Der hatte 1859 sein großes Haus mit gutgehender Praxis in der Promenade 18 (heute August-Bebel-Straße) verkauft und seine vielverspechende Universitätslaufbahn aufgegeben. Natürlich hatte sein Abgang aus Halle Gründe: Seine Frau war an Lungentuberkulose gestorben. Obwohl ein fünfmonatiger Aufenthalt in Kairo im Winter 1857/58 zunächst als Therapie erfolgreich verlaufen war, worüber er auch ein Buch schrieb, war dies nur die letzte Station eines leidvollen Kampfes gewesen, den Wilhelm Reil über Jahre hinweg mit den verschiedensten Kuren vergeblich gegen die TBC geführt hatte.

Aber nicht nur dort war er der Verlierer: An der Fakultät war er nach mehreren Anläufen, endlich zum Extraordinarius ernannt zu werden, gescheitert, obwohl er auf eine erfolgreiche Lehrtätigkeit und umfangreiche Publikationsliste verweisen konnte. Vermutlich haftete ihm noch immer "der Makel eines Homöopathen" an. Die Fakultät hatte schon früher klar Stellung gegen die Homöopathie bezogen, während ihre Verfechter Reil vorwarfen, in schulmedizinischen Bahnen zu arbeiten. In dieser verzweifelten Situation hatte ihn Theodor Bilharz aufgesucht, den er in Ägypten kennengelernt hatte. Theodor Bilharz verkörperte nun das Musterbeispiel eines deutschen Arztes, der im Ausland zu Weltruhm gelangt war. Nach ihm ist die Krankheit Bilharzia benannt worden, die durch in den Blutgefäßen der Unterleibsorgane lebende Saugwürmer verursacht wird. Als Bilharz seine Unterstützung anbot, war dies das auslösende Moment gewesen, daß der Arzt aus Halle – fast überstürzt – seine Koffer gepackt hat.

Nachdem es ihm zunächst nicht gelang, eine Anstellung im ägyptischen Staatsdienst zu finden, machte er sich mit seinem "Maison de Santé" in Altkairo für TBC-kranke Europäer selbständig. Erst nach weiteren acht Jahren, so berichtet die Tochter, ergab sich die Gelegenheit, daß der Arzt bei einer akuten Halsentzündung des damaligen Vizekönigs von Ägypten, Ismail Pascha, hinzugezogen wurde. Zum Dank berief ihn der Vizekönig zum Vorsitzenden einer Kommission, welche die Heilquelle von Heluan erforschen sollte. Dieser gehörte auch der französische Chemiker Gastinel-Bey an, der bereits zehn Jahre zuvor und dann immer wieder auf diese Quelle und ihre mögliche ökonomische Ausnutzung aufmerksam gemacht hatte. Aber auch er war nicht der erste gewesen, der versucht hatte, dafür eine Konzession von der ägyptischen Regierung zu erwerben. Zwei italienischen Ärzten war zuvor abschlägig beschieden worden. Die Expertise der Kommission fiel positiv aus, und Ismail wies an, Heluan zu einem Kurort auszubauen. 1872 übernahm Reil das Management mit der Auflage, den Ort nach den modernsten Kriterien zu planen. Heraus kam ein schachbrettartiges Raster, wobei jedes Quadrat eine Fläche von 10.000 m² umschloß. Die dazwischenliegenden Straßen waren 10 m breit mit Fußgängerwegen auf beiden Seiten von jeweils 5 m, so daß die Gesamtbreite ganze 20 m ausmachte.

Bemerkenswert ist, daß die daraufhin festgelegten Verordnungen der Baugenehmigung in Heluan auch tatsächlich eingehalten worden sind, was sonst in keiner anderen Stadt Ägyptens je gelungen ist. So stand im 1. Artikel, daß die Häuser aus nur ein oder zwei Geschossen bestehen durften, wobei der geplante Gebäudekomplex nicht weniger als ein Zehntel des zugewiesenen Landes betragen, aber auch nicht mehr als die Hälfte der Gesamtfläche überschreiten durfte. Des weiteren sollten die Konstruktionen so weit wie möglich auseinanderliegen, um eine freie Luftzirkulation zu gewährleisten. Die Infrastruktur und die bauliche Gestaltung war nun ganz auf das Ziel der Heilung Leidender und Kranker abgestellt. Die großzügige Planung mit lockerer Grundstücksbebauung und breitangelegten Straßen schaffte beste Voraussetzung dafür. In dieser Anlage konnten die immunstärkenden Maßnahmen wie viel Ruhe, viel Sonne und frische Luft neben dem Bad in der Heilquelle voll greifen. Denn die Freiluftbehandlung war vor Robert Kochs Entdeckung und Kultivierung des Tuberkelbazillus und seiner therapeutischen Arbeiten mit Tuberkulin die einzige Behandlungsweise gegen die Tuberkulose, die oft erfolgreich war und heute noch oder wieder ihren Sinn hat. Dieses Planungskonzept stand im völligen Gegensatz zur traditionellen Bebauung islamischer Städte, die von den europäischen Ärzten als sehr kritisch angesehen wurde: Vom Mangel an Luft und Sonne in den meisten Straßen und Häusern in Altkairo schreibt 1847 schon Pruner.

Um für den modernen Kurort auch die modernsten Installationen präsent zu haben, stürzte sich Reil in Schulden. Zur Liquidation wurde 1876 der nun schon öfters genannte Hofarchitekt Ismail Paschas, Julius Franz, nach Heluan entsandt, der dann auch mit der Direktion betraut wurde. Waren bis 1879 nur 73 Villen errichtet worden, setzte der eigentliche Bauboom erst um die Jahrhundertwende ein: Riesige Sanatorien mit ungeheuren Bettenkapazitäten entstanden, wie z.B. das Al-Hayat mit schönster Jugendstilornamentik. Heute ist dieser Gebäudekomplex im Abriß begriffen. Mit Heluan ist nun das geschehen, was vielen Kurorten widerfahren ist: Sie wurden mit dem Untergang des Adels und Großbürgertums nach dem ersten Weltkrieg dem Verfall preisgegeben. Zwar trat diese Entwicklung in Ägypten mit Verzögerung ein, aber auch dort änderte sich die Bäderbenutzung in Sozialkuren ab.

Paradoxerweise wurde Heluan seit Ende der 50er Jahre zum Industriezentrum ausgebaut mit einem neuen Bedarf an Arbeiterwohnungen. 1960 hatte die Stadt bereits 94.000 Einwohner. Von ihnen beklagen sich diejenigen, die noch in den alten Häusern leben – über zuviel Sonnenlicht.

Lungenkranke, die das Hauptkontingent der europäischen Kranken in Ägypten gebildet hatten, verschwanden mit dem Aufkommen der Schweizer Höhenkurorte und Kochs Entdeckung mehr und mehr aus diesem Land, so daß der existentielle Aspekt für einen Europäer, ein Leben im Orient zu führen, aus dem Blickfeld und in Vergessenheit geriet. Mit ihnen gingen die Erinnerungen an die Verdienste deutscher bzw. österreichischer Ärzte und ihrer Kolonie in Ägypten.

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Maadi – Wohnen im Grünen
von Samir Raafat
aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Agstner und Ulrike Hofmann

Papyrus-Logo Nr. 1—2/93, pp. 25—42

Der Autor ist freischaffender Journalist und schreibt für die Kulturseite der "Al-Ahram Weekly".  Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Geschichte von Maadi, welches 1993 erscheinen soll; der vorliegende Artikel ist eine exklusiv für den Papyrus zur Verfügung gestellte Kurzfassung.
1904—1962: Die Geschichte eines Experiments

Maadi liegt am südlichen Ende einer Ebene, die sich zwischen dem Nil und den vom Mokattamgebirge auslaufenden Wadis erstreckt. Die Ebene, die allgemein als "Hod al-Bassatine" bezeichnet wird, beginnt in Madabegh ("die Gerbereien") am südlichen Ende von Alt-Kairo. Das landwirtschaftlich genutzte Flachland erstreckt sich im Osten bis Bassatine ("die Gärten") und im Süden Richtung Torah, wo die Wüste nahe an den Nil heranreicht, welche an dieser Stelle eine natürliche Barriere gegen die jährlichen Überschwemmungen bildete. Das Becken von Maadi wurde durch ein System von Bewässerungskanälen erschlossen, darunter den Khashab-("Holz")-Kanal, der bis in die 80er Jahre durch Maadi floß. In den letzten 20 Jahren wurden diese Kanäle zugeschüttet, da keine Landwirtschaft mehr betrieben wurde.

In grauer Vorzeit wurde das höher gelegene Gelände östlich von Maadi von Händlern und Bauern bewohnt. Das Gebiet zwischen Alt-Kairo und Heluan wurde al-Ein genannt, das hieroglyphische Zeichen hierfür war der Fisch. Die Händler brachten hier ihre Waren, die mit den Wüstenkarawanen über Suez von weit her gekommen waren, über den Nil an das westliche Ufer, um sie nach Memphis und Oberägypten zu transportieren. Die Bauern kamen nach der jährlichen Flut in die Ebene und bebauten das Land. Im Winter waren sie von den reichlichen Regenfällen, die durch die Wadis in die Ebene gelangten, abhängig. Als der Nil allmählich zurückging und die Fluten immer schwächer wurden, siedelten sich die Bewohner der Hügel im Tale an. Die erste Siedlung war "Misr al-Ateeka", an der Stelle des heutigen Alt-Kairo.

Der Name "Maadi" leitet sich von der Fähre (arabisch "al-Ma'adia") über den Nil ab.

Maadi im 19. Jahrhundert

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde dieses Gebiet von zwei Eisenbahnlinien durchkreuzt. Zuerst errichtete der Khedive Ismail die Militäreisenbahn, welche Soldaten und Munition von der Zitadelle durch die Wüste zum kleinen Nilhafen von Torah am Ostufer des Nils beförderte. Diese Linie wurde später südwärts nach Heluan verlängert, damals ein fast unbekannter Ort. Das einzige Dorf entlang der Eisenbahn war Bassatine, gegenüber dem alten jüdischen Friedhof. Diese Bahnlinie besteht heute noch und ist als Digla-Linie bekannt; sie bildet die Grenze zwischen Maadi und Digla.

Im Jahre 1888, während der Herrschaft des Khediven Tawfik, erwarb ein Konsortium von führenden jüdischen Bankiers und Finanziers die Konzession der Militäreisenbahn, welche damals schon viel von ihrer strategischen Bedeutung verloren hatte. Das Konsortium begann sofort mit dem Bau einer zweiten Linie von Torah nach Norden durch Maadi, Deir al-Tine ("Dar al-Salaam"), Alt-Kairo und die europäischen Friedhöfe, Sayeda Zeinab, bis zur Endstation in Bab-el-Louk. Diese "neue Linie" wurde 1890 eröffnet.

In der Zeit des Khediven Tawfik gelangten die Thermalbäder von Heluan zu internationalem Ruf. Der Khedive hatte dort einen Winterpalast in der neuen "Winter-Oase" errichtet; seinem Beispiel folgten alsbald türkische und ägyptische Prinzen, und diesen wiederum der ägyptische Adel. Sehr rasch entwickelte sich "Heluan les Bains" zu einem bevorzugten Winterkurort der europäischen Aristokratie. Das Konsortium, dem die Eisenbahnlinie nach Heluan gehörte, errichtete dort Hotels und Kasinos.

Maadi um die Jahrhundertwende

Im Jahre 1904 wurde die inzwischen "Suares-Linie" genannte neue Bahnlinie mit der "Delta Light Railways", einer britischen Gesellschaft, die im Delta ein Schmalspureisenbahnnetz besaß und betrieb, fusioniert. Die Delta Light Railways besorgten hauptsächlich den Transport von Getreide und Baumwolle von verschiedenen Orten im Delta zum Hafen von Alexandrien. Die in rascher Expansion begriffene Bahnlinie suchte nach neuen Investitionsmöglichkeiten und wandte sich der Aufschließung von Baugrund zu.

Während Felix Suares, Vorsitzender des Konsortiums, und Sir Alwin Palmer, Direktor der Delta Light Railways ihre Fusionsverhandlungen zum Abschluß brachten, kauften die Geschäftsleute Victor Moise Mosseri (1873—1928) und sein Cousin Eli Nessim Mosseri (1879—1940) das links und rechts der Suares-Linie im Raum von Maadi gelegene Land im großen Stile auf. Die Grundstücke wurden den ahnungslosen Eigentümern und den Erben eines pensionierten türkischen Offiziers namens Selim Mohamed al-Bimbashi billig abgekauft.

Den Kaufverträgen zufolge belief sich der Kaufpreis pro Feddan auf 42 bis 50 LE. Der erste Grundkauf erfolgte 1898, der letzte im Juni 1904; insgesamt gelangten 431 Feddan (181 ha) unter die Kontrolle der Mosseris. Im Dezember 1904 verkauften die Mosseris ihren gesamten Besitz in Maadi um LE 200 pro Feddan an die "Egyptian Delta Land & Investment Company" (EDLICO). Auf diese Art erzielten die Mosseris, ähnlich den Eisenbahnbaronen in den USA, durch kluge Spekulation astronomische Gewinne. Die 431 Feddan sollten den Kern der neuen Vorstadt Maadi bilden.

Die Egyptian Delta Land Investment Company mit Sitz in London war im Juni 1904 von der Delta Light Railways Company mit dem Ziel der Verwertung und Aufschließung der an deren Eisenbahnlinien angrenzenden Grundstücke gegründet worden. Der erste Präsident von EDLICO war Sir Auckland Colvin, vormals Stellvertreter des britischen Generalkonsuls und diplomatischen Agenten Lord Cromer. Andere Vorstandsmitglieder waren Sir Alwin Palmer, Gouverneur der National Bank of Egypt und Baron Jacques de Menasce, ein prominenter jüdischer Bankier aus Alexandrien, dessen Familie von Kaiser Franz Josef geadelt worden war. Palmer und Menasce waren auch Aufsichtsratsmitglieder der Delta Light Railways; es erscheint interessant, daß Baron de Menasce ein Cousin der beiden obenerwähnten Mosseris war.

Unter der umsichtigen Planung von EDLICOs General Manager, Captain Alexander Adams, einem pensionierten englisch-kanadischen Offizier, begann 1905 die Aufschließung des Grundbesitzes in Maadi. Während seiner kurzen Tätigkeit – Adams wurde 1906 durch Reginald Henriques ersetzt – ließen sich die ersten Einwohner in Maadi nieder. So wie Captain Adams waren auch sie pensionierte britische Offiziere, die in den Dienst der sich ausweitenden ägyptischen Verwaltung getreten waren. Sie dienten in der Polizei, als Bankkontrolleure, als Sanitäts- und Zollinspektoren sowie bei der Landesvermessung und als Eisenbahndirektoren. Es waren jene Anglo-Ägypter, die beginnend mit der Epoche von Lord Cromer, durch einige Jahrzehnte hindurch die höheren Posten in der ägyptischen Verwaltung besetzten.

Maadi vor EDLICO

1904 bestanden im Gebiet um das heutige Maadi einige Dörfer. Fellachen aus Izbet al-Ibiari, Izbet Mohamed Nafea und Maadi al-Khabiri bearbeiteten den Boden in diesem kleinen Teil des Niltales. Unter den lokalen Großgrundbesitzern stand die Familie Hassanien-Dessouki aus Heluan an erster Stelle. Sie besaß ausgedehnte Güter, die sich nördlich von Maadi und südlich von Bassatine erstreckten. Ihre zwei Landhäuser ragten einsam aus grünen Feldern empor. Sie stehen noch heute, überragt von unschönen Gebäuden, hinter dem Konvent der Borromäerinnen.

Neben den Fellachen und Großgrundbesitzern gab es noch Ziegenhirten und Beschäftigte im staatlichen Magazin von Maadi al-Khabiri. Dieses wurde von einer sudanesischen Abteilung der ägyptischen Armee bewacht. In Torah bestand eine kleine Munitionsfabrik, welche im 1. Weltkrieg als Gefängnis diente. Das älteste Gebäude von Maadi ist das Adawia-Kloster am Nilufer an der Corniche, welches im Lauf der Jahre erweitert und renoviert wurde. Der Überlieferung zufolge hielt sich die heilige Familie während der Flucht nach Ägypten hier auf und bestieg dort ein Boot, das sie nilaufwärts brachte.

Die neue Stadt

Maadi wurde nach demselben Prinzip wie Khartoum, einer weiteren britischen Schöpfung, geplant. Die Hauptstraßen gehen sternförmig vom Bahnhof aus und führen zu Plätzen, von denen weitere Querstraßen ausgehen. Der Rest der Straßen war horizontal und vertikal angeordnet und ergab ein schachbrettartiges Muster. Die Hauptstraßen wurden nach den Gründern von Maadi benannt. Eine Ausnahme bildete die heutige Nahda-Straße, welche nach König Fuad I. benannt war; die 9. Straße hieß kurzfristig Farouk I. Die anderen Straßen wurden in aufsteigender Folge durchnumeriert. Die ursprünglichen Namen der Hauptstraßen von Maadi legten Zeugnis ab, wer zur Zeit der Gründung Maadis die ägyptische Wirtschaft kontrollierte: es waren britische Manager und jüdische Bankiers. Beide Elemente beeinflußten die Entwicklung von Maadi: das britische durch das von 1904 bis 1955 ununterbrochene Management von EDLICO, das jüdische durch die Mehrheit im Aufsichtsrat und somit die Kontrolle der Gesellschaft. Obwohl sich beide Elemente überschnitten, kam es nie zu irgendwelchen Auseinandersetzungen, wovon alle Beteiligten profitierten. Es sollte noch festgehalten werden, daß diese Zweigleisigkeit typisch für die Zeit von Lord Cromer war, welcher die Zusammenarbeit mit Minderheiten auf Kosten der die Mehrheit bildenden einheimischen Bevölkerung suchte und unterstützte.

Plan Maadi
aus: Cairo Maps, The Practical Guide 2001, AUC, pp. 36—37

 

Der britische Einfluß

Von Anfang an wurde Maadi als Kopie einer kleinen britischen Stadt, komplett mit Gärten, Parkanlagen und Country Club, wo man Tee und Erfrischungen einnehmen konnte, während auf dem Rasen Cricket- oder Hockey-Spiele stattfanden, geplant. In den frühen Jahren wurden Villen und Landhäuser nach der umfangreichen, genau festgelegten Bauordnung errichtet. Diese war die Bibel von Maadi, der sich jeder unterwarf. Sie legte fest, was erlaubt war und was nicht. So bestimmte sie z.B. die für Holzläden vorgeschriebenen Farben, das Verhältnis von Gartenfläche zu bebauter Fläche – üblicherweise 3:1 –, die Breite der Gehsteige usw. Sie legte auch die Grenzen von Maadis Geschäftsviertel fest – ursprünglich zwischen dem früheren Bahnübergang (heute Brücke über die Metro) und der 81. Straße. Geschäfte waren nur auf der Westseite der 9. Straße erlaubt. Alle Gebäude durften ausnahmslos nicht höher als 15 m sein. Unter der Verwaltung von EDLICO wurde die Einhaltung von Vorschriften und Verordnungen strikt durchgesetzt und jeglicher Verstoß dagegen geahndet. Es erwies sich als Vorteil für EDLICO, daß Maadi von anderen Bevölkerungszentren durch Wüste und Nil getrennt war. Kairo war 11 km entfernt, Heluan noch weiter. EDLICO konnte daher ihre Vorschriften ohne Einmischung der öffentlichen Hand, des Gouvernorates von Giza oder des Ministeriums für öffentliche Bauten festlegen. Die einzige Transport- und Verbindungsmöglichkeit zur übrigen Welt war durch die Eisenbahnlinie gegeben. Es gab zwar auch den alten Fahrweg von Maadi durch Madabegh und Alt-Kairo, welcher bei Azar el-Nabi die Asphaltstraße erreichte, die Bewohner von Maadi bevorzugten aber die Bahn. Die damals als "Maadi Road" bekannte Straße war unsicher, eng und ohne Beleuchtung. In den 20er Jahren wurde eine neue Straße angelegt, welche 1933 eine elektrische Straßenbeleuchtung erhielt. Die alten, im ersten Weltkrieg eingeführten Telefone wurden 1951 mit Einführung des automatischen Wählsystems ersetzt.

Die isolierte Lage gab Maadi die Möglichkeit, zu wachsen und reifen. Andererseits war es gerade diese Isolation, welche die "Inselmentalität" unterstützte, die die Bewohner von Maadi vor dem 2. Weltkrieg charakterisierte. Die Einwohner von Maadi lebten in einem Wunderland – einer wunderschönen, sich selbst versorgenden und sicheren Gesellschaft. Was außerhalb vorging, war ihnen fremd.

"MaaDale"

Maadi könnte eigentlich als "MaaDale" bezeichnet werden. Von 1916 bis 1955 lag die Verwaltung der EDLICO in den Händen der Familie Dale. Der erste Dale war Tom Jesse, der nach dem unerwarteten Tod von Reginald Henriques, einem Juden aus Manchester, die Geschäfte übernahm. Tom war in Mansoura geboren, damals ein blühendes Baumwollzentrum im Delta. Er gehörte zu jener Generation von Engländern, deren Eltern und Zeitgenossen England mit dem Ziel einer besseren Zukunft in Richtung der britischen Besitzungen in Übersee verlassen hatten. Sie waren die Erbauer des britischen Empire. Toms Vater und seine zwei Onkel waren im 19. Jahrhundert nach Ägypten gekommen, um bei Lord Cromers landwirtschaftlichen und Bewässerungsreformen mitzuwirken. Nach deren Beendigung wurden sie Geschäftsleute in Mansoura und Zagazig. Nach seiner Ausbildung in England kehrte Tom nach Ägypten zurück, wo er Effie de Lancy, die Tochter eines Anglo-Ägypters, der in der ägyptischen Gefängnisverwaltung tätig war, heiratete. Bei EDLICO stand ihm ein fähiges Team aus verschiedenen Nationalitäten zur Seite: Griechen, Kanadier, Juden, Schweizer, Levantiner und Ägypter. Dale genoß das volle Vertrauen und die Unterstützung des Aufsichtsrates und – was noch wichtiger war – der Einwohner von Maadi. Als Tom Dale 1946 in Pension ging, übernahm sein 32-jähriger Sohn Geoffrey Dale, ein gerade demobilisierter Ingenieur, seine Aufgaben. Er setzte die Entwicklung von Maadi im Sinne der Gründer von EDLICO fort. Infolge unterschiedlicher Auffassungen wurde Geoffrey Dale 1955 vom neuen Vorsitzenden der EDLICO, Taher al-Lozi, "gebeten", seine Funktion niederzulegen. Dieser überraschende Rücktritt und die Abreise Dales hatten für ihn den Vorteil, daß er die sich aus der Beteiligung Großbritanniens an der Suezkanal-Invasion 1956 ergebenden Folgen nicht erleben mußte. Die katastrophalen Ereignisse des Jahres 1956 kündigten – so wie die des Jahres 1948 – Änderungen an, die die weitere Entwicklung von Maadi beeinflussen sollten. Es begann ein neues Kapitel in der ägyptischen Geschichte, in welchem auf britische und französische Wirtschaftsinteressen keine Rücksicht genommen wurde. Britischer und französischer Besitz wurde 1956 nach dem fehlgeschlagenen Suez-Abenteuer sequestriert. Endlich machte das Wort "Egyptian" im Firmennamen EDLICO Sinn, aber es war schon zu spät. Die Ereignisse der folgenden Jahre sollten den Namen EDLICO zum Verschwinden bringen.

Zur Zeit von Dale sen. und Dale jun. entwickelte sich Maadi zu Kairos schönster Gartenvorstadt. Dies war nicht leicht zu erreichen gewesen. Zuerst stand Maadi mit anderen neuen Vorstädten und Siedlungen in Konkurrenz. Heliopolis, 1906 in der Wüste gegründet, pulsierte mit Leben. Weiters wurde Maadi in seiner kurzen Geschichte zweimal – im ersten und im zweiten Weltkrieg – vom Militär mit Camps überzogen. Letztlich kam noch hinzu, daß bereits vor 1956 Ägypten sich zunehmend aus der britischen Bevormundung befreite, was für die verbleibenden Anglo-Ägypter unerfreuliche Auswirkungen hatte. Immer mehr Engländer verließen Ägypten. Zuletzt sollte auch die durch die Gründung Israels 1948 erfolgte Änderung der geopolitischen Lage in der Region ihre Auswirkungen auf Maadi haben.

Der Aufsichtsrat der EDLICO von 1904—1956

Von 1904 bis 1956 lag die Kontrolle der EDLICO in den Händen einiger jüdischer Familien. Britische Aufsichtsratsmitglieder waren zwar hinreichend vorhanden, weil ihre Anwesenheit Sicherheit vermittelte und politisch ratsam war; es sah auch in der Optik besser aus. Die jüdischen Aufsichtsratsmitglieder waren durch Abstammung und Heirat miteinander verbunden, was die Sache erleichterte. Sie repräsentierten die Oberschicht der Kairoer Jüdischen Gemeinde. Im Laufe der Jahre finden wir zwei Cattauis, drei Mosseris, einen Menasce, drei Hararis, einen Rolo und einen Adès. In der gleichen Zeit waren nur drei Ägypter, von denen zwei Moslems und einer Kopte waren, vertreten. Die restlichen Aufsichtsratsmitglieder waren Engländer, Belgier oder Levantiner.

EDLICOs Anwälte rekrutierten sich bis 1954 auch vornehmlich aus jüdischen Kreisen. Unter ihnen war der Schwager des Aufsichtsratsvorsitzenden, Maitre Aaron Alexander aus Südafrika, Ernest Harari und Emanuel Mizrahi Pascha, welcher den größten Besitz in Maadi sein eigen nannte (ein Teil desselben dient heute dem mexikanischen Botschafter als Residenz). Mizrahi zählte auch zu den führenden Gartenbauexperten Ägyptens. Die Überreste seines einst einzigartigen Gartens mit seinen vielfach ausgezeichneten Kakteen sind ein lebendes Zeugnis für ausgezeichnete Erfolge auf dem Gebiete des Gartenbaus.

Der Aufsichtsrat, der jährlich einmal zusammentraf, um die Firmenpolitik und Profitabilität zu erörtern, funktionierte ausgezeichnet, indem er – in weiser Voraussicht – die Führung der täglichen Geschäfte der fähigen Firmenverwaltung überließ.

Während des 2. Weltkrieges trat der äußerst gebildete und erfolgreiche turko-ägyptische Geschäftsmann Hassan Mazloum Pascha als einer der ersten Ägypter in den Aufsichtsrat ein. Er baute sich in der 85. Straße ein Wochenendhaus; sein Hauptwohnsitz in Kairo sollte später das Goethe-Institut beherbergen. Ein anderes ägyptisches Mitglied des Aufsichtsrates war Youssef Zulfikar Pascha, der Schwiegervater König Farouks. Bei den englischen Mitgliedern handelte es sich um Sir Charlton Spinis Pascha, früherer Generalinspektor der ägyptischen Armee, und John Crawford, stellvertretender Gouverneur der ägyptischen Nationalbank (Central Bank). Auf den längstdienenden, 1940 verstorbenen Aufsichtsratsvorsitzenden Elie Mosseri, der 1904 mit dem Grund von Maadi erfolgreich spekuliert hatte, folgte dessen Neffe Henry Victor Mosseri.

Der Aufsichtsrat verfügte über beträchtliche Macht und Einfluß. Was konnte besser sein, als den Schwiegervater des Königs, den stellvertretenden Gouverneur der führenden Bank Ägyptens, den früheren Inspektor der ägyptischen Armee und einen Geschäfts-Tycoon im Aufsichtsrat zu haben. Unter solchen Bedingungen mußte Maadi blühen und gedeihen.

Maadi – die frühen Jahre

Eine der ersten Aufgaben von Tom Dale's Vorgängern war es, Leute dafür zu interessieren, sich in Maadi niederzulassen. Das Konzept war daher auf Zugänglichkeit, Bewegungsfreiheit, Frieden und Ruhe in einer angenehmen Umwelt mit hohem Erholungswert ausgerichtet. Wie sollte das bewerkstelligt werden?

Vom ersten Augenblick an war man sich einig, daß die Schaffung von Schatten, Grün und Farbe vorrangiges Ziel war, das natürlich nicht mit einem Sofortprogramm erreicht werden konnte, sondern auf jeden Fall 20 Jahre und mehr in Anspruch nehmen würde. Laubbäume mit breiten Kronen waren unbedingt erforderlich und diese benötigten nun einmal so lange, um die gewünschte Höhe zu erreichen.

Die Lebbach-Bäume, Feuerakazien, Jacarandas und Tecomas sollten für Schatten und Farbe sorgen, Casuarina-Büsche waren als Grenzmarkierungen und als Schutz gegen Wind und Sand gedacht. Am Khashab-Kanal, welcher Wasser zu den Feldern im Norden Maadis brachte, wurden Eukalyptus-Bäume aus Australien angepflanzt. Die Wahl dieser Bäume war eine besonders glückliche, da sie Fliegen und Moskitos fernhielten. Weitere Bemühungen betrafen die Anpflanzung von Obstgärten in gewissen Bereichen, wo die Hoffnung bestand, daß diese dort gedeihen würden, sowie die Anlage von Baumschulen für künftige Baumpflanzungen. EDLICO benötigte daher einen Fachmann zur Durchführung des Planes. Besonders erfolgreich war die Anpflanzung von Weinreben, die aus einem leicht salzhaltigen Brunnen bewässert wurden; den Weintrauben bekam dies. Die Weingärten lagen im Bereich des heutigen Victoria-College. Mit dem Eintreffen südafrikanischer Truppen mußten die Weingärten 1941 weichen. Wo sich heute südlich der 15. Straße das Seminar von St. Leon und der Konvent von "Notre Dame des Apotres" erstrecken, gediehen einst Bananen. Ursprünglich befanden sich dort Felder, welche 1918 von der Familie Louthy an EDLICO verkauft wurden. Auf dem Gelände war ein artesischer Brunnen, der die Bananenplantage mit Wasser versorgte. Die Einfahrt von Maadi befand sich an anderer Stelle als heute, weiter vom Nil entfernt an der westlichen Auffahrt der Brücke in der Nahda-Straße (damals Fuad I.-Straße genannt). Das Gebiet zwischen dem Elektrizitätswerk an der Corniche und der 5. Straße war eine Guava-Plantage. Daneben befand sich auf etwas erhöhtem Gelände ein kleiner Friedhof, auf dem 1939 die erste Moschee von Maadi errichtet wurde (auf der Nahda-Straße an der Einfahrt von Maadi). Unweit davon befanden sich die Stallungen der EDLICO für deren Esel und andere Zugtiere. Am Ende des 1. Weltkrieges wurde ein Verantwortlicher für Obstgärten, Baumschulen und Weingärten ernannt. Sein Name, Meir Y. Bitom, steht auf der Vorderseite seiner Synagoge an der Orabi (ex-Mosseri)-Straße. Auf seinen Beruf ging auch sein Spitzname old "(m)angos and (b)ananas" zurück. Bitom pflanzte fast alle Bäume in dem Bereich zwischen den beiden Eisenbahnlinien in Maadi. Als er Anfang der 40er Jahre in Pension ging, folgte ihm der Landschaftsgärtner Edgard Sachs. Bitom und Sachs und ihre tüchtigen ägyptischen Helfer vollbrachten Wunder, Maadi immer in Farben zu kleiden. Die Bäume wurden so angepflanzt, daß fast durch das ganze Jahr hindurch einige Straßen in vollem Blütenschmuck standen. Die Ernte der Obstgärten wurde von EDLICO bei einer Versteigerung an die größeren Obsthändler verkauft; sie umfaßte u.a. die Mangos von einer großen Plantage an der Sherifa Dina-Straße. Die Mango-Bäume trennten Maadi von den Feldern im Norden. Sie erstreckten sich bis zur Digla-Linie. Östlich der Bahngeleise stand auf einer Erhöhung die 1936 eröffnete Marconi-Telegraphenstation. Die hohen Masten wurden vor einigen Jahren durch riesige Satelliten-Empfangsanlagen ersetzt. Unter den Beduinen war die Gegend als "Wadi Marconi" bekannt. Bis in die Mitte der 70er Jahre war das Gelände zwischen der Marconi-Station und dem Mokattam-Gebirge und Bassatine leere Wüste. Ein Teil gehörte zum Gelände des 19 Loch-Golfplatzes des Maadi-Klubs. Abgesehen von einigen übriggebliebenen Einrichtungen des 2. Weltkrieges, welche noch von der ägyptischen Armee benutzt werden, war der Golfplatz das einzige Zeichen menschlicher Präsenz; durch Ausgrabungen wurde allerdings festgestellt, daß dieser Bereich in prähistorischer Zeit besiedelt war.

Maadis erstes Elektrizitätswerk befand sich neben der Polizeistation auf der 13. Straße. Später wurde es neben das Wasserwerk an den Nil verlegt, wo es sich heute noch befindet. Das E-Werk war durch eine Bahnlinie entlang der Wadi el-Nil-Straße mit der Bahnstation von Maadi verbunden, wodurch der Treibstoff direkt zu den "Sulzer"-Dieselgeneratoren angeliefert werden konnte.

Die Wasserversorgung Maadis oblag dem Wasserwerk am Nil. Die Gärten von Maadi wurden einmal in der Woche mit Nilwasser, reich an Sedimenten, durch offene Kanäle versorgt, welche auch die Bewässerung der Bäume in den Straßen und deren für das tägliche Leben wichtige Wachstum sicherstellten.

Die Bewohner von Maadi waren stolz auf ihre Gärten und Gehsteige. "Vernachlässigung wird bestraft!" – tatsächlich verhängte EDLICO gegen faule Hauseigentümer, die sich nicht um ihren Gehsteig kümmerten, Strafen. Die Gärten verströmten das ganze Jahr hindurch köstliche Düfte. Bienen, Frösche, Vögel und Grillen wählten Maadi zu ihrer dauernden Heimstätte.

Bereits 1919 gewann Maadi fast alle Preise, die bei der alljährlich stattfindenden Kairoer Blumenschau vergeben wurden. Eine Bewohnerin Maadis, die Amerikanerin Mary Percy Stout, schrieb das Buch "Gardening in Egypt". Frau Stout besaß einen der schönsten unter den vielen Gärten in Maadi. Leider wurde ihre Herrschaftsvilla, Ecke 11. Straße/Nahda-Straße, abgerissen, um Platz für das "Freedom House", einen der zwei Anfang der 80er Jahre in Maadi errichteten Wohnblöcke der amerikanischen Botschaft, zu schaffen. Der andere Wohnblock, "Liberty House" auf der Damaskus-Straße, steht an der Stelle der Art Deco-Villa von Salvatore Bey Cicurel (bis 1960 Eigentümer der größten Kaufhauskette Ägyptens).

Maadi ging auch regelmäßig aus den anderen jährlichen Konkurrenzen, wie der Frühlings-, Chrysanthemen- und Rosenschau siegreich hervor! Prominente Bewohner Maadis wie Lucy de Cramer, Taher al-Lozy, Mary Stout, Emanuel Mizrahi, Ellen Nimr, Phyllis Sidley, Jean Crawford und Mr. Zulfikar zählten regelmäßig zu den Gewinnern bei diesen Veranstaltungen. Mrs. Crawford schuf mit Unterstützung anderer Einwohner Maadis den jährlichen "Garten- und Gehsteigwettbewerb", bei dem Preise für den schönsten Garten, den schönsten Gehsteig und den besten Gärtner zuerkannt wurden. Die Sauberkeit der Straßen und die Funktionstüchtigkeit der Abflüsse wurden laufend überprüft. Zu Beginn des Frühlings wurden Bäume gestutzt, alte wurden entfernt und neue an deren Stelle gepflanzt. Seit den 50er Jahren wurden diese Aufgaben mehr und mehr von der Sanitätsverwaltung und der Gemeinde Kairo übernommen. Bis 1936 war EDLICO auch für Sanitätswesen, Müllabfuhr, etc. zuständig. Küchenabfälle wurden einmal in der Woche gesammelt und an Schweinezüchter nördlich von Maadi verkauft, wobei noch ein kleiner Gewinn erzielt wurde.

Einmal in der Woche wurden auch die Bewässerungskanäle inspiziert und Insektenvertilgungsmittel versprüht.

In der Anfangsphase von Maadi waren gewisse, über ganz Maadi verstreute Grundstücke von EDLICO für den Bau von Mietshäusern reserviert worden. Die ersten derartigen Gebäude entstanden im Zentrum in der Nähe der Nahda-Straße und dehnten sich nach Norden, Osten und Süden aus; EDLICOs Ziel war, die Gegend zu besiedeln und andere zum Kauf von Land und zum Bau von Häusern zu bewegen. Hierfür gewährte EDLICO an jene, die Grund kauften und innerhalb eines Jahres ein Haus errichteten, Darlehen zu 6% Zinsen.

Maadi und seine Architekten

Viele der von EDLICO errichteten Häuser stehen noch heute. Sie umfassen vier Typen: die halbfreistehenden Villen mit Anbau an der Seite, die großen und kleinen Villen sowie die Bungalows beim Maadi-Klub. Die ersten Häuser in Maadi wurden vom Architekten Ariston St. John Diamant aus Smyrna (Izmir) errichtet. Diamant baute auch die "Ewart Hall" der American University Cairo und verschiedene Bankgebäude. Sein Haus in Maadi ist eines der ältesten und steht – renoviert – auf der 85. Straße zwischen der 15. und 16. Straße. Auf dem gleichen Gelände steht ein anderes Architekturjuwel – die Villa des Schweizer Bauunternehmers Emile Klauser, der Ende der 40er Jahre diese im Stil von Frank Lloyd Wright errichtete. Als Klauser Ägypten verließ, verkaufte er seine Villa an die Schweizer Botschaft, die sie heute noch als Residenz des Botschafters nutzt.

Klausers Bauunternehmen SPECO baute viele der Wohngebäude auf dem Gelände der Portlandzementfabrik in Torah. Diese Fabrik gehörte einem Schweizer Konsortium, welches sie auch verwaltete. Viele der Schweizer Manager dieser Zementfabrik lebten in Maadi. Generaldirektor Ernest Tremblay besaß eine wunderschöne Villa an der 19. Straße. Gegenüber seiner Villa lebte sein Stiefsohn Rolf Friedrich, dessen Villa auch von SPECO errichtet worden war. Friedrichs Haus dient heute als "Maadi House" der US-Botschaft.

Andere Architekten, welche zur Verschönerung Maadis beitrugen, waren Gaston Rossi, Manham & Söhne, Fernando Parvis, Ayrout, Graf Caccia Dominioni (Erbauer des italienischen Mausoleums in el-Alamein), Henry Fresco und Victor Salama. Ende der 40er Jahre baute der ägyptische Architekt Yehya Mustafa mehrere wunderschöne Villen in Maadi, darunter die der Ex-Königin Dina von Jordanien an der Sherifa Dina-Straße.

Die Maadi-Gemeinschaft

Wie bereits erwähnt, waren die ersten Bewohner von Maadi Engländer, meist ehemalige Offiziere, die ihre Laufbahn als Beamte beendeten. Sie errichteten inmitten riesiger Gärten idyllische Landhäuser und zogen ihre Kinder in der Sicherheit dieser englischen Vorstadt am Nil auf. Weihnachten, Christtag, Ostern, Guy Fawkes-Tag gehörten zu den Institutionen von Maadi. Jährliche Schwimm-Galas im Bad von Maadi mit dem so wichtigen "Eier-Lauf" waren die Höhepunkte der langen Sommerferien. Der Klub wuchs mit der Einwohnerzahl. Tennisplätze wurden angelegt und neue Spielfelder begrünt. Durch viele Jahre hindurch verfügte der "Maadi Sporting Club" über ausgezeichnete Schwimm-, Tauch- und Tennisteams, welche aus vielen der unter den Klubs veranstalteten Wettbewerbe als Sieger hervorgingen.

Der 1. Weltkrieg führte kurzfristig zu einer Unterbrechung im Wachstum von Maadi. Es wurde von Australiern überschwemmt. Die "Australian Light Horse Unit" hatte sich als Lagerplatz die leere Fläche südlich der 84. Straße ausgesucht. Vier Jahre lang war das ruhige Leben in Maadi gestört. Nicht genug der australischen Soldaten, wurde in Maadi auch noch ein Internierungslager für deutsche und türkische Gefangene angelegt.

Zwischen den Weltkriegen

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges kommt es in Maadi zu einem Bauboom. Unter den neuen Siedlern sind Ägypter, Levantiner, Franzosen, Türken, Griechen, Schweizer, Mitteleuropäer und noch mehr Engländer. Bis zum 2. Weltkrieg bildeten die Juden die größte Minderheit in Maadi. Die Gegend südlich der 83. Straße erhielt den Beinamen "Jüdisches Viertel". Die jüdischen Einwohner waren verschiedener Herkunft, wie aus den Namen ersichtlich ist. Von Wolff, Liskovitch, Rothschild zu Zilcha, Curiel und Samhoon über Kabili, Hetena, Barda und Dayan; sie errichteten herrliche Häuser und trugen in großzügiger Weise zum Wohle der Allgemeinheit von Maadi bei.

Bei seiner Gründung hatte Maadi keine Schulen. Ein Zimmer im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes der EDLICO auf der 7. Straße war für die wenigen britischen Schüler ausreichend. Im Jahre 1912 errichtete der Konvent des Hl. Karl Borromäus in Maadi am Nordende der 12. Straße inmitten von Feldern ein Altersheim für Ordensmitglieder. Als die Schwestern nach dem 1. Weltkrieg nach Maadi zurückkehrten, errichteten sie 1922 einen kleinen Kindergarten, der mit der von ihnen in Bab-el-Louk betriebene Schule in Verbindung stand. In dieser Zeit mußten die ältere Schüler täglich mit dem Zug zu ihren Schulen nach Kairo. Der Frühzug um 7:46 war meist voll mit uniformierten Studenten aus Heluan und Maadi. So manche Liebesgeschichte begann und endete auf diesem Zug. Ein halbe Stunde später, um 8:25 sammelte der Zug die ernst dreinschauenden Beamten, die sich zu ihren Büros nach Kairo begaben. Jeder saß stets auf dem gleichen Platz, Tag für Tag. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, die Sitzordnung zu ändern. Der Zug bestand aus Waggons mit Abteilen und führte 3 Klassen. Nach dem 2. Weltkrieg wurden diese Züge durch moderne dieselbetriebene mit nur mehr zwei Klassen ersetzt; die Elektrifizierung der Linie erfolgte erst später.

1932 öffnete die Kairoer Englische Schule eine Zweigstelle in der 82. Straße beim Khashab-Kanal. Es dauerte nicht lang, bis auch andere Schulen es für nützlich erachteten, sich in Maadi zu etablieren. 1949 kommt es zum entscheidenden Durchbruch, als das "Victoria College Cairo" in Digla, unmittelbar südlich der Telgraphenstation, eine großangelegte Schule eröffnete.

2. Weltkrieg – "Kiwis" in Digla

In den 30er Jahren waren in Digla Casuarina-Büsche gepflanzt worden, um Maadi mit einem Grüngürtel zu umgeben. Die Gründe in Digla waren für künftige Aufschließung in Reserve gehalten worden. Im Jahre 1925 sprach man davon, in Digla eine Rennbahn anzulegen, doch die Verhandlungen zwischen EDLICO und dem am Pferderennsport interessierten südafrikanischen Millionär Jacob Joel scheiterten. Später stellte sich dann heraus, daß die ägyptische Pferderennsport-Vereinigung zur Wahrung ihrer finanziellen Interessen an den Rennbahnen in Heliopolis und auf Gezira das Projekt sabotiert hatte.

Zwischen 1940 und 1946 nahm Digla 76.000 Neuseeländer auf, die auf dem Weg zu den Truppen der 8. Armee waren, welche in der westlichen Wüste Rommels Afrikakorps gegenüberstanden. Der Kommandeur der neuseeländischen Truppen war der legendäre General Freyberg, der unmittelbar nach Kriegsende zum Gouverneur von Neuseeland ernannt und 1951 zum Lord Cyril Freyberg, 1st Baron of Wellington geadelt wurde.

Auch die südafrikanischen Landvermessungseinheiten waren in Digla stationiert. Sie bauten die erste Asphaltstraße von Maadi nach Obeid bei Suez.

Der Weltkrieg und seine Auswirkungen

Die Zivilbevölkerung Maadis reagierte unterschiedlich auf den Krieg und die große militärische Präsenz in der unmittelbaren Umgebung. Die britische Gemeinschaft rief sofort zur Mobilisierung auf. Zelte für Sport- und kulturelle Aktivitäten wurden auf einem freien Platz innerhalb Maadis errichtet. Wegen der Devise "nur für Offiziere" wurde der Maadi-Klub britischer, als er je vor dem Krieg gewesen war.

Die nicht-britische Bevölkerung von Maadi übte sich in Zurückhaltung. Die jungen Ägypter beobachteten die Entwicklung mit Angst und Skepsis. Einige der eher militant eingestellten bildeten Banden, um den Dominion-Truppen in der Nachbarschaft Widerstand zu leisten und sie zu belästigen. Die Mischung aus Heldentum und Dummheit brachte einige dieser jungen Männer in Schwierigkeiten. Es war nicht klug, sich mit den Briten anzulegen, die mehr als 500.000 Mann in Ägypten hatten.

Inzwischen trafen die ägyptischen Paschas von Maadi – während des Krieges waren es mindestens zwei Dutzend – im Schutze ihrer schönen Gärten zu ihrem eigenen Kriegsrat zusammen. Wie ihre militanten Söhne konnten aber auch sie weder den Verlauf des Krieges noch den Lauf der ägyptischen Geschichte ändern.

Als die Deutsche Wehrmacht 1942 sich Alexandrien näherte, wurde die jüdische Gemeinde in Maadi nervös. Man hörte Nachrichten über unheilvolle Entwicklungen im von den Nazis besetzten Europa. Einige Juden begannen Vorkehrungen für eine Ausreise nach Palästina oder in den Sudan zu treffen, andere überlegten, ihren Besitz ägyptischen Freunden anzuvertrauen, während andere ihren Namen wechselten: Levy und Steinhall wurden zu Lee und Stamford.

Besonders jene mit andersgläubigen oder ausländischen Ehe- oder Geschäftspartnern hatten zu leiden. Ehepaare und Partner beobachteten mit wachsendem Schrecken die plötzlich zu Tage tretenden Sympathien ihrer Partner. Dies führte zur Auflösung zahlreicher Ehen und Geschäftsverbindungen.

Der Baron und der Konsul

Zwei von Maadis prominenten deutschen Bewohnern verschwanden während des Krieges: Baron von Richter, früher bei der Dresdner Bank auf der Nahda-Straße, verbrannte 1939 seine Akten und begab sich auf einen "ausgedehnten" Urlaub.

Wilhelm van Meeteren von Siemens, von seinen Freunden Willie genannt, gab noch im Sommer 1939 in seinem Garten am Khashab-Kanal ein rauschendes Fest, an dem Minister, der Gouverneur von Kairo, Mitglieder des Diplomatischen Korps und seine britischen Nachbarn teilnahmen. Auch er verschwand plötzlich, genauso wie der Staat Litauen, dessen Konsul in Kairo er war. Seine musikalisch begabte Tochter Klara, die mit dem deutschen Konsul Hans Pilger verheiratet war, spielte oft Tennis mit der auch in Maadi ansässigen Amy Nimr, Gattin von Sir Walter Smart, "Oriental Secretary" der Britischen Botschaft.

Van Meeteren und Baron Richter waren wegen des kurzen "privaten" Besuchs, den Reichspropagandaminister Goebbels am 6./7. April 1939 Maadi abgestattet hatte, besorgt. In Maadi kursierten Gerüchte, wonach Goebbels Baron Richter in Maadi besucht habe; diese konnten aber nie bestätigt werden. Als Richter nach dem Krieg nach Maadi zurückkehrte, mußte er feststellen, daß sein Haus in der Nahda-Straße von einem reichen Kaufmann namens Joshua Green in Beschlag genommen worden war. Entgegenkommenderweise übersiedelte Richter nach Zamalek.

Nach dem Krieg lebten andere Nazis, darunter Dr. Hans Eisele, in Maadi. Er wohnte in der 14. Straße in dem Haus, das früher Marguerite und Marcel Mizrahi gehörte. Von seinem Schlafzimmerfenster aus hatte er eine wunderbare Aussicht auf die Meir Y. Bitom-Synagoge!

Als sich das Leben nach Kriegsende zu normalisieren begann, traten die müden und kriegsüberdrüssigen Neuseeländer ihre lange Rückreise nach Neuseeland an. Sie hinterließen ein "Thank You Maadi"-Denkmal in Form eines Obelisken auf dem Hauptplatz von Maadi. Das war im Mai 1946. Und als ob die Natur Maadi von den Spuren des Krieges und all seinen unangenehmen Nachwirkungen reinwaschen wollte, brach über Maadi eine vom Mokattam herabströmende Wasserflut herein, wie sie der Ort erst einmal in diesem Jahrhundert gesehen hatte. Die erste Flut war fünf Monate vorher am Neujahrsabend hereingebrochen und hatte neben Verwüstungen in den Gärten Maadis weit schwerere Auswirkungen auf die Nachbardörfer, wo die Lehmhäuser vor den Augen der Bewohner in den Nil geschwemmt wurden. Um eine ähnliche Katastrophe in der Zukunft zu vermeiden, waren Gräben auf beiden Seiten der Militärbahnlinie gezogen worden, die – wie auch der Khashab-Kanal – in den 70er Jahren zugeschüttet und in breite Straßen umgewandelt wurden.

Maadi nach dem 2. Weltkrieg

Die stolzen Paschas, die eigentlich – mit wenigen Ausnahmen – nie wirklich Teil der Gemeinschaft von Maadi waren und sich auch nie aktiv engagierten, sondern lediglich ihren Nutzen aus den unbestreitbaren Vorteilen Maadis zogen und sich dieser erfreuten, kehrten wieder in die Politik zurück und bekleideten diverse Ämter und Kabinettsposten. Vielleicht lag das daran, daß Tennisshorts und Tarboush nicht zusammenpassen. Zu den rühmlichen Ausnahmen zählte der mit dem Königshaus verwandte Seifallah Yussri Pascha, der in jungen Jahren ein berühmter ägyptischer Polospieler war. Er war auch ägyptischer Gesandter in Berlin.

Einige der Paschas aus Maadi bekleideten unter dem König höchste politische Ämter. Ibrahim Abdelhadi und Naguib al-Hilali waren Premierminister, andere hatten bedeutende Posten im Kabinett inne. An Ahmed Abdelwahab erinnert man sich, da er der einzige Finanzminister war, unter welchem das Staatsbudget Überschüsse zu verzeichnen hatte, während sein eigener Besitz verschuldet war. Seine Witwe mußte ihre große Villa auf der Port Said- (früher: Abdelwahab)-Straße an den Parfum-Magnaten Hamza Chabrawichi verkaufen. In den 80er Jahren wurde diese Villa dann Residenz des israelischen Botschafters.

Ein Pascha, früher Generaldirektor der Ägyptischen Staatlichen Eisenbahnen, wurde 1937 vom englischen König geadelt. Sir Mahmoud Shakers Haus in der Orabi-Straße ist heute die Residenz des sudanesischen Botschafters. (Der Sohn des verstorbenen Sir Mahmoud Shaker ist derzeit ägyptischer Botschafter in London.)

Doch nicht alle Einwohner Maadis vor 1952 waren Paschas, es gab auch noch die "Beys" und "Effendis". Sie alle gewöhnten sich an das Leben in Maadi und integrierten sich vorzüglich. Niemand setzte sich über die von EDLICO erlassenen Vorschriften hinweg. Sogar die Ex-Kaiserin des Iran, nun mit einem Bey verheiratet, hatte sich unterzuordnen und tat dies gerne.

1948 – die Tage danach

Die Gründung des Staates Israel wirkte sich direkt auf Maadi aus. Nicht nur verringerte sich die Anzahl der britischen und französischen Bewohner von Maadi durch die kriegerischen Entwicklungen der Jahre 1948 und 1956, sondern waren diese auch ein schlechtes Vorzeichen für die mächtigen jüdischen Geschäftsleute, die bis ins Jahr 1950 diverse Handels- und Kommerzbanken, die großen Kaufhäuser und die Mehrheit der blühenden Großgrundbesitz- und Handelsfirmen kontrollierten. Am Ende des 2. Weltkriegs stellten die Juden mit 555 Familien ein Drittel der Einwohner von Maadi. Ihre bis dahin harmonische Koexistenz in der aus vielen Rassen zusammengesetzten Gemeinschaft kam zu einem Ende. Der Abschied von ihrem vielgeliebten Maadi war der Preis, den sie für den glühenden Nationalismus des europäischen Zionismus zu zahlen hatten.

Zuerst gingen die Briten. Der Rest folgte bald nach. St. John's Baptist Church, die von Sir Herbert Baker 1928 errichtet worden war, und in der so viele Hochzeits- und Tauffeierlichkeiten stattfanden, war nun leer. Bald aber wurde sie wieder durch den Zustrom von anderen Angelsachsen, diesmal aus Übersee, zum Leben erweckt. Ägypten hat neue Freunde gefunden, Maadi neue Bewohner, allerdings nur kurzfristige.

"Yankee Doodle comes to town"

Das "Cairo American College" (CAC), an dem man gleich einem Barometer immer den amerikanischen Einfluß in Ägypten ablesen kann, wechselte seinen Standort in zwanzig Jahren dreimal. Ursprünglich in großem Haus des ehemaligen Kriegministers Mohamed Aflaton Pascha in der 7. Straße untergebracht, wurde es in den 50er Jahren in den maurischen Palast Prinz Mohamed Ibrahims in der Sherifa Dina-Straße verlegt. Bald wurde aber auch dieser Palast zu klein und CAC übersiedelte an den heutigen Standort in Digla. Die Amerikaner bauten eine imposante Schulanlage auf dem Grundstück, wo einst das Camp der neuseeländischen "Kiwi"-Soldaten stand und welches 1951 von der Schwester König Farouks, Prinzessin Fawzia, als Bauplatz für ihr Landhaus ausgewählt worden war. Durch die Revolution des Jahres 1952 und die Beschlagnahme der Besitztümer des Königshauses kam es allerdings nur mehr zur Errichtung einer Umfassungsmauer.

Was passierte mit EDLICO?

Bis 1962 hatten die Briten Maadi verlassen. Einige, wie z.B. Geoffrey Dale, waren in den Sudan gegangen; der Direktor des Victoria-College, Elliot Smith, vormals Leiter des berühmten Internats von Cheltenham, begab sich nach Nigeria. Andere übersiedelten nach Aden, der Rest kehrte nach England zurück und trat in den Ruhestand.

Von 1962 an hatte sich Ägypten – aus reinen wirtschaftlichen Gründen – dem Sozialismus zugewandt, was einen weiteren Exodus aus Maadi bewirken sollte: die Mitglieder der anderen Kolonien – die Schweizer, die verbliebenen Juden, die griechisch-zypriotischen Kaufleute aus der 9. Straße und die Levantiner – verließen Maadi.

Lediglich die Ex-Paschas blieben übrig. Wohin sollten sie gehen? Sie saßen in ihren großen Häusern und beobachteten verhalten und ängstlich die merkwürdigen neuen Nachbarn, welche gar nicht nach Maadi zu passen schienen und die kürzlich verlassenen Häuser von Calderon, Mizrahi, Watoury, Hartman, Hulter, Winkler, Zaidan, Lifschitz, Sabet, Liebhaber, Chalem und vielen anderen bezogen. Einige dieser Nachbarn zogen einfach ohne zu zahlen ein, nach dem Motto "Zuerst niederlassen, dann verhandeln!".

Die prachtvollen Häuser der ägyptischen Adeligen wurden in Schulen und Regierungsbüros umgewandelt. Die Arabische Liga übernahm das im osmanischen Stil erbaute Haus von Prinz Amr Ibrahim auf der 14. Straße und errichtete im einst prächtigen Garten ein bunkerähnliches Gebäude. Aus Prinzessin Toussons Haus gegenüber der Community Church wurde ein öffentlicher Kindergarten; in den maurischen Palast von Prinz Mohamed Ali Ibrahim hielt die Armee Einzug. Die einst pittoreske Villa Prinzessin Fawzias in der Mustafa Kamel-Straße ist nun eine heruntergekommene staatliche Schule, die unter den Nachwirkungen des Erdbeben im Oktober 1992 leidet.

EDLICO ereilte 1962 ein vorzeitiger Tod. Die Mitglieder der so fähigen Verwaltung wurden entlassen. In der Folge versuchten Regierungsstellen und Kooperative, EDLICO zu ersetzen; zur Zeit versuch dies die Firma "Iskan and Tammeer" in Maadi. Die heilige Bauordnung ging im Tumult verloren. Maadi war zu einem offenen Spielplatz für die diejenigen geworden, welche auf schnellen Reichtum aus waren, "Nieder mit den Villen und Gärten, es lebe der soziale Wohnbau!"

Die süßen Düfte und das Vogelgezwitscher wurden durch Lärm und Umweltverschmutzung ersetzt. Durch die Bevölkerungsexplosion reicht nun das einst so ferne Kairo bis nach Maadi hinein. Das "Isolationssyndrom" ist endgültig verschwunden.

Das Wenige, das von dem einst so prachtvollen, von privater Hand mit Phantasie und harter Arbeit errichteten Maadi übriggeblieben ist, liegt in seinen letzten Zügen.

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Geschluckt – aber noch nicht verdaut: Dörfer in Kairo
von Ekkehart Schmidt

Papyrus-Logo Nr. 1—2/91, pp. 17—21

Am Ezbekiya-Garten beginnt eine der wichtigsten Ost-West-Achsen der ägyptischen Metropole. Die Sharia 26 Julia durchschneidet als wohl meistbefahrene Straße Kairos die Neustadt des Khediven Ismail und erreicht nach 3 km den Nil, um ihn und die vornehme Insel Zamalek gleich einer Autobahn in Höhe der vierten Stockwerke als "15.Mai-Brücke" zu überqueren. Erst nach 3 km senkt sie sich am Westufer des Nils zum Midan Sphinx, benannt nach dem den Platz beherrschenden Sphinx-Kino. Anfang der 60er Jahre erstreckte sich hier noch fruchtbares Ackerland.

Dann begann sich im Bauboom des 1. Fünfjahresplans eine neue Stadt zu entwickeln, die sich schon nach wenigen Jahren bis zu der 3 km entfernten Bahnlinie nach Oberägypten in dieses einstige Schwemmland gefressen hatte: Mohandessin. Am "Midan Sphinx" beginnt die breite Prachtstraße der "Arabischen Liga", mit exklusiven Mode- und Schuhgeschäften, vor denen jetzt am Abend Ägypter, Golf-Araber und wohlhabende Schwarzafrikaner flanieren. Auf meinem Stadtplan von 1949 war all das noch sattgrün eingezeichnet, übersprenkelt von Dattelpalmen. Auch ein kleines Dorf von 100 mal 50 Metern findet sich eingezeichnet. Mich interessiert, was in diesen schnell vergangenen 41 Jahren aus "Al-Hutiya" geworden ist. Vielleicht, so denke ich, könnte sich mit einigem archäologischem Spürsinn noch das eine oder andere Bauernhaus finden lassen.

Die Hochhäuser an der Hauptstraße sind hier über 12 Stockwerke hoch. Ein halbes Dutzend Neubauten von bis zu 20 Etagen mit Luxusappartements demonstrieren, wie steil der Anstieg der Grundstückspreise verläuft. Eine unbeleuchtete Straße führt einem Cañon gleich auf die Rückseite dieser imposanten Neubauwand. Auf dem kleinen Platz begutachten einige Männer eine Schafherde, nebenan wird ein Tier geschlachtet.

Aus der schmalen Gasse, die sich links zwischen den nur zweistöckigen alten Bauernhäusern und einem Hochhaus hindurchwindet, schallt laute Trommel- und Flötenmusik. Eine dichtgedrängte Menschenmenge feiert enthusiastisch klatschend die Hochzeit eines Dorfbewohners. Vor dem Brautpaar hat die Menge eine 'Gasse' freigehalten. Erst tanzt dort der Bruder des Bräutigams, dann der stolze Vater. "Ijuuhii..." trillern die Frauen. Nach einigen Minuten zieht der Zug 20 Meter weiter, um wieder zum Tanze zu stoppen. Es wird Stunden dauern, ehe das Dorf einmal umrundet ist und jeder Bewohner mitbekommen hat, wer sich mit wem verheiratet hat.

Wie eine mittelalterliche Festung trotzt Al-Hutiya dem Ansturm der sie umzingelnden Betonfront. Grundriß und Verlauf der Gassen gleichen dem meines alten Planes. An der Bausubstanz Al-Hutiyals scheint sich nichts verändert zu haben, höchstens drei der nur schmalen Häuser sind durch dreistöckige Betonbauten ersetzt worden. An der Außenfront des Dorfes finden sich die typischen Läden der Berufsskala traditioneller Siedlungen: neben dem Schlachter ein Geflügelhändler, ein Fischverkäufer und nebenan ein Grill, ein Obst- und Gemüsehändler, einige Schneider und Bügler, ein Schuhmacher, ein Zigaretten- und Bibsi-Kiosk, ein Elektriker (dessen Etablissement aus einem an einer Mauer befestigten Glaskasten besteht), ein Automechaniker und der heute obligatorische Videoladen mit den neuesten Gewaltfilmen aus Fernost.

Eine weitere Schafherde kommt vorbei und findet auch ohne den müden hinterherlaufenden Hirten den Weg in eine enge Gasse, die ins Innere des Dorfes führt. Nach 50 Metern verschwinden sie in einem Hauseingang. Noch immer leben einige Familien von der Viehwirtschaft, auch wenn es mittlerweile mehrere Kilometer Wegstrecke zu bescheidenen Rest-Weideflächen hinter der Eisenbahnlinie sind. Unterwegs werden mehrere unbebaute Spekulationsgrundstücke angelaufen, auf denen sich neben Müllbergen auch der eine oder andere Haufen Gartenabfälle findet. Die diese Plätze ebenfalls frequentierenden Ziegen finden freilich auch an wochenalten Tageszeitungen noch Geschmack (nicht, daß die Zeitung vom Tage frischer schmeckte!). Mangels Grünfutter macht der Zug auch an öffentlichen Müllcontainern Halt.

Die bäuerlich gekleideten Frauen Al-Hutiyas sitzen auf der Stufe des für jeden Passanten einsehbaren Hausflures und unterhalten sich. Die Männer sitzen im großen Teehaus an der Ostkante des Dorfes, dort, wo sie vielleicht in ihrer Jugend noch hinter einem Damm mit dem Feldweg von Giza nach Imbaba im Überschwemmungsland gespielt haben. Erst durch den Bau der ersten Assuan-Hochdämme, Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber seit dem Bau des Hochdammes 1960—1971, der das Ende der jährlichen Überschwemmungen bedeutete, wurde das Gebiet zum Bauland der schnell expandierenden Hauptstadt.

Die einzige kleine Baulücke von 1949 an der 'Front' des Dorfes ist mittlerweile geschlossen: Ein "Onkel-Mohamed-Laden" steht jetzt auf dem Grundstück, das noch vor wenigen Jahren nur durch eine Pforte in der Mauer zugänglich war. Ahmed, ein junger Tagelöhner, erzählt, daß dieses Grundstück jeden Abend gut besucht war: Die Dorfleute haben sich dort, vor fremden Blicken geschützt, Stühle in den Staub gestellt, um gemeinsam das eine oder andere Haschischpfeifchen zu rauchen. So zeitlos unverrückbar trotz radikalstem Wandel in der Umgebung, wie sich Al-Hutiya heute präsentiert, beweist auch diese alte Tradition Bodenständigkeit. Den Joint in der Hand bricht Ahmed in haltloses Kichern aus, als er erwähnt, daß sich hier manchmal noch immer versprengte Reste der früheren Besucher um ein Pfeifchen scharen.

Auf einer vom staatlichen Tourismusbüro herausgegebenen Karte führt die Straße des 26. Juli schnurgerade bis zur Eisenbahnlinie. In Wirklichkeit endet sie heute noch beeindruckend abrupt an einer ähnlichen Häuserfront wie jene "Dorf"-Seitenstraße der "Straße der Arabischen Liga". Auf der anderen Seite des schon im Mittelalter wichtigen Dorfes Mit-Oqba führt sie weiter zum Midan Lubnan, fast vorwurfsvoll den gleichen Namen wie am anderen Ende des Großdorfes tragend. Dann endet die Straße an der Sharia Sudan. Sie soll jedoch in naher Zukunft bis zur Wüstenstadt des 16. Oktober ausgebaut werden.

Auch Mit-Oqba hat sich von ehrgeizigen Stadtplanern nicht einfach von der Landkarte fegen lassen. Im Gegenteil. Schon 1949 war der Ort eines der wichtigsten Verbindungsglieder zwischen Landwirtschaft und der Hauptstadt. Noch ehe Mit-Oqba von vornehmen Villen-Siedlungen eingeschlossen werden konnte, expandierte das Dorf in einem wohl ebenbürtigen Bauboom. Es stellte sich quasi mit einem Schutzwall aus bis zu fünfstöckigen Häuserreihen entlang schmaler Gassen zur doppelten Größe angewachsen jeglichen Reißbrettplanungen in den Weg.

Der einstige Bauernsohn auf der Rückseite des Dorfes, vor dessen Haus heute breit und ohne Verkehr der zweite Abschnitt der Straße des 26. Juli seine Fortsetzung findet, weiß nichts Genaueres über die städtischen Planungen. Es werde wohl eine über 250 m lange Hochstraße über das Dorf gebaut werden. Inscha'allah – so Gott will – werde man seine Familie in ein Neubaugebiet umsiedeln, falls es doch zu einem Straßendurch- und Häuserabbruch kommt. Inscha'allah.

100 Meter weiter stoße ich auf den Midan Lubnan. Noch wirkt hier alles "tot", kaum ein Mensch zu sehen – größer könnte der Kontrast zu dem bunten Leben Mit-Oqba's kaum sein. Überall um den großen Platz wird rege gebaut, ein halbes Dutzend 14- bis 22-stöckiger Hochhäuser mit Appartements zu 1.500 bis 5.000 Pfund Monatsmiete werden hier seit zwei bis drei Jahren hochgezogen. Ein Oberägypter, der die Bauaufsicht hat und sich mit der ganzen Familie im Erdgeschoß einquartiert hat, ersitzt sich so seinen künftigen gut bezahlten Job als Bawuab. Er kommt mit mir aufs Dach, gemeinsam schauen wir hinunter. Angesichts des weitgestreckten Hochhauskranes um Mit-Oqba muß ich an Photos von Meteoritenkratern in den USA denken. Hier und da ragen tief unter uns Palmen und Minarette hervor. Dieses Hochhaus ist unmittelbar an den Rand des Dorfes gesetzt worden. Die Häuser sind nur 2- bis 3-stöckig, oft noch mit Innenhof, dort und auf den Dächern wird noch Vieh gehalten, hier und da entdecke ich Lehmöfen in der traditionellen Rundform.

Einige Abende später sitze ich in einem Teehaus in einer der vielen stark belebten Straßen mit hunderten kleiner Läden und Werkstätten. Es ist nicht ungewöhnlich, daß hier neben Schafen auch kleine Gruppen von Wasserbüffeln ins Dorf getrieben werden. Es gibt noch einige Bauern mit Feldern hinter der Bahnlinie. So manche haben dort viel Geld mit Grundstücksverkäufen verdient. Grundstücke am Dorfrand zu verkaufen – daran scheint niemand zu denken, vielleicht besteht hier ein Tabu. Das Dorf präsentiert sich erstaunlich resistent gegen ein solches langsames "Verdaut-werden" durch die Megalopolis, deren Dynamik hier offenbar Grenzen gesetzt sind. Einige wenige Häuser sind abgerissen und durch 4- bis 6-stöckige schmale Hochbauten (auf dem gleichen Grundriß) ersetzt worden. Lediglich bis hin zur Fläche des ehemaligen Fisch- und Entenweihers hat sich die Sharia Al-Nil al-Abyad mit einer einzigen hochmodernen Hochhauszeile vorgeschoben. Auch dieser Straßenname taucht auf der anderen Seite des Dorfes wieder auf.

In einem nagelneuen Fiat fährt jetzt ein stolzer Autobesitzer vor, die Männer über den Wasserpfeifen staunen, während der 30jährige vorsichtig hin- und herfährt, alle Blicke auf sich. Ein eigenes Auto ist etwas sehr ungewöhnliches hier. Auf dem Weg nach Hause begegnen mir keine zwei Straßenecken weiter die neuesten Mercedesmodelle, schwarzglänzend Autos, auf welche zum Einkaufspreis noch etwa 100% Importsteuern zu bezahlen sind. Hinter dem Luxussupermarkt "Cash and Carry" befindet sich sogar ein Laden mit Motorbooten und breitspurigen Sanddünensportmotorrädern. Und das ist erst der Anfang.

Aspekte von Kairo. Es gibt noch mehr solcher Dörfer: Alt-Dokki, Imbaba, Reste von Alt-Agouza, Minyet-es-Sirig, el-Waili el-Kubra, Et-Taliblya, Kom ar-Ris, el-Bassatin und wie sie alle heißen, im kairoer Stadtgebiet habe ich allein 29 gezählt. Vergessene Namen.

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Hefeteig oder Krebsgeschwür – Die "Unbesiegbare" wächst weiter
von Ekkehart Schmidt

Papyrus-Logo Nr. 1—2/91, pp. 40—46

"Nein, nein" – sagt der Taxifahrer auf der Sharia Sudan am Westrand von Mohandessin – "dies ist Giza, Kairo liegt auf der anderen Nilseite." Er hat Recht, wir befinden uns im Gouvernorat Giza, aber längst ist die Provinzhauptstadt nur noch ein Trabant der Landeshauptstadt. Die Metropole Kairo ist seit 25 Jahren nicht mehr identisch mit dem Stadtgouvernorat Kairo. Wie ein Hefeteig ist die Stadt über die administrativen Grenzen gequollen, das eigentliche Stadtgouvernorat (214 km²) stellt mit 6 Mio. Einwohnern nur noch die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Großraumes. Eine gewaltige Verdichtungszone hat sich gebildet, die weit in die Nachbargouvernorate Giza und Qalyubiya (Shoubra el-Kheima) reicht. Heliopolis, Maadi und Helwan, einst selbständige, weit entfernte Städte, gehören längst zu Kairo, die Metropole wächst sogar noch über sie hinaus.

Kairo gehört zu den am schnellsten wachsenden Großstädten der Welt. Dreiviertel der Einwohner sind erst seit Anfang der 60er Jahre dazugekommen. Die Stadt wächst noch immer um 250—350.000 Einwohner jährlich, d.h. in zwei Jahren kommt eine mit der Bevölkerung Frankfurts vergleichbare Einwohnerschaft dazu. Kairo ist heute etwa 28.000 Hektar groß, 35 km lang (in der Diagonalen von den Pyramiden zum Flughafen) und 15 km breit. 13—16 Millionen Menschen leben auf dem Doppelten der Fläche von 1960, als die Stadt noch etwa 4 Millionen Einwohner zählte. Erst seit 1927 ist Kairo überhaupt eine Millionenstadt.

Ausdehnung der Stadt
Das Wachstum im Großraum Kairo

Diese ungeheure Ausdehnung bei gleichzeitiger Verdichtung der bebauten Fläche erklärt die überall zu beobachtenden gravierenden Folgewirkungen, von denen die Stadtverwaltung überrollt wird: Verkehrsprobleme, Wohnungsnot, Verschmutzung der Stadt bis hin zur totalen Überlastung und schließlich dem "Zusammenbruch" der Infrastruktur Anfang der 80er Jahre. Heinz Coubier beschrieb die Stadt 1975 als einst blühende Metropole, die nach "explosionsartiger Aufschwemmung" durch "überproduzierte Menschenquantitäten" zerbricht und zu einem amorphen Steinhaufen einer monströsen Massengesellschaft zerfällt.

Das flächenhafte Wachstum Kairos begann im 19. Jahrhundert nur zögernd einzusetzen, doch ergab sich Ende des Jahrhunderts bereits eine sich rasant vollziehende Verlagerung der zentralen, in der Altstadt gelegenen Geschäfts- und besseren Wohnviertel. Eine moderne Neustadt nach dem Vorbild des Haussmann'schen Paris entstand unter den Khediven Ismail und Tawfiq im Westen der Altstadt. Noch heute liegt hier, im Karrée zwischen Hauptbahnhof, Ezbekiya-Garten, Midan Tahrir und Regierungsviertel, der Schwerpunkt der City: Abseits der Medina im Raum zwischen dieser, dem alten Hafenort Bulaq und dem Nil.

Zur Jahrhundertwende entstanden auf den Nilinseln und am Gegenufer erste wohlhabende Residenzviertel. In einem veritablen Bauboom um das Jahr 1906 dehnte sich diese Neustadt entlang der schon 1896 entstandenen Straßenbahnlinien und deren Verlängerungen in nordöstlicher Richtung aus. Es entstand die Wüstenwohnstadt Heliopolis, die sich bald zu einem zweiten Wachstumspol der Stadt entwickelte.

Nach dem 2. Weltkrieg und besonders nach der Unabhängigkeit 1952/56, sowie durch den ihr folgenden explosionshaften Bevölkerungszuwachs der 50er und 60er Jahre entstanden in rascher Folge neue Wohnviertel, Gewerbesiedlungen und Industrieanlagen.

Bauliche Entwicklung

Im Vergleich zur späteren Entwicklung wuchs die Stadt bis 1968 relativ kontrolliert, v.a. in Richtung Heliopolis, sowie in westlicher Richtung (Imbaba, Agouza und Dokki). In der folgenden Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs unter Sadat verlor die städtische Ausdehnung in einem erneuten und nun unkontrollierbaren Bauboom jegliche Dimension (s. Grafik). Entlang der Pyramidenstraße lebten 1960 noch 12.000 Menschen, 1976 waren es 130.000 (Wachstumsrate: 938 Prozent). In Dokki, Agouza und Boulaq el-Dakrour stieg die Bevölkerung im gleichen Zeitraum von 105.000 auf 571.000 (Wachstumsrate 444%), in Shubra el-Kheima schließlich folgte ein Sprung von 101.000 auf 394.000 Einwohner, 290% mehr als 1960.

Eine Besonderheit Kairos ist das enorme Höhenwachstum, bedingt durch die Flächenknappheit, eine "vertikale Expansion" der Stadt, welche etwa 4—5 mal so stark ist, wie die flächenhafte Expansion. Wenn ein Bauherr wieder investieren kann, läßt er seine Häuser aufstocken.

Besonders deutlich wird dies in der westlichen Neustadt. Noch vor wenigen Jahrzehnten reichte der Blick vom Shepheards-Hotel an der Nil-Corniche weit über das Agrarland bis zu den Pyramiden am Rand der Wüste.

In Mohandessin muß ich heute für einen vergleichbaren Blick schon auf das Dach eines 20stöckigen Hochhauses steigen. Es ist erstaunlich still hier oben. Feuchtkalt liegt der Abenddunst über der Stadt (oder ist es Smog?), die Novembersonne kommt kaum noch durch. Der schwarze Abbruch des Wüstenplateaus im Westen, fast 10 km entfernt, stellt das einzige Stückchen Horizont dar, den die uferlose Stadt dem Betrachter gönnen mag. Ansonsten bietet sich dem Auge in alle Himmelsrichtungen nur ein unregelmäßiges Auf und Ab, Hunderte von Hochhäusern steigen neben- und übereinander hoch, bilden in vielfach gestaffelten Ketten einen weiten Kranz um mein stilles Plätzchen. Selbst der Cairo-Tower, das höchste Gebäude des Kontinents, vermag da keinen Akzent zu setzen. Die Zitadelle, noch Ende der 70er Jahre unübersehbares Wahrzeichen Kairos, muß das Auge schon angestrengt suchen, von den Minaretten der Altstadt keine Spur.

Noch vor 20 Jahren war fast die gesamte Neustadt am Westufer des Nils eine grüne Villengegend. Lediglich am Nil begannen die ersten Hochhäuser über die damals "magische" Grenze von 8—10 Stockwerken zu schießen. Die 80er Jahre haben Villen und Bungalows nur als Botschaftsgebäude überstanden. Ein Großteil wurde noch einmal um 2—3 Etagen aufgestockt, andere wurden abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt. An der maximalen Bauhöhe läßt sich grob das Alter der Neubauten ablesen: 8—10 Stockwerke: Mitte der 70er, 10—14 Stockwerke: Anfang der 80er. Ende der 80er Jahre schwangen sich die ersten Bauherren über 20 Etagen hoch. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wohnungsmangel, steigende Grundstücks- und Mietpreise und ein stetig stärker spürbarer Mangel an Restflächen lassen die Bauindustrie auch in Zukunft einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Kairos bleiben.

Nichts spricht dagegen, daß es zur Jahrtausendwende westlich der Innenstadt nur noch vereinzelt Gebäude unter acht Etagen geben wird. São Paolo, mit Mexiko-City und Shanghai einer der Rivalen Kairos um die Spitzenstellung im beängstigenden Wettlauf um die Krone städtischer Monstren, ist den angedeuteten Weg schon gegangen und zur monotonen Hochhauslandschaft geworden.

Es ist nicht nur der Abenddunst, der in der anderen Richtung aus dem Gelände zwischen meinem Standpunkt und der Wüste eine graubraune Farbmasse macht. Aus zwei Rauchquellen gespeist – "Müllstraßen" südlich des Kamelmarktes – wird eine zweite Dunstschicht vom Nordwind über das Fruchtland getrieben. Giftig, nach Plastik stinkende Lake legt sie sich über die Felder. Zwischen beiden Schichten erkenne ich mehrere hellgrüne Streifen, aus denen vereinzelt Palmen und unregelmäßige Häuserreihen hervorragen. Sie scheinen wie ein Trugbild im Dunst zu schweben. Der Wind drückt den Qualm flach über die Häuser. Weiter südwestlich verschwimmt das Grau wieder zur geballten Masse, aus der als einzige Silhouette die Cheops- und Chefrenpyramiden ragen. Ganz scharf die Konturen im Orangerot des Himmels.

Schon mehrere Minuten ist die Sonne über der "6th of October"-Stadt verschwinden. Aber noch immer ist es still. Dann ruft der erste Muezzin, bald folgen die anderen, langsam gewinnt der Chor an Stimmgewalt. Viel zu spät. Aber natürlich: Wie soll ein Sterblicher dort unten erkennen, daß die Sonne untergegangen ist, um im richtigen Moment das Abendgebet zu rufen?

Große Vogelschwärme fliegen jetzt dicht hintereinander aus dem Delta kommend südwärts. Von hier aus wirkt es, als flögen sie tief unten nur knapp über den Hochhäusern. Ob es Zugvögel sind, die in heißen Klimaten nur nachts fliegen? Sie fliegen um Kairo, diese nun aufglühende Lichterballung, wie sie vor einigen Tagen das Mittelmeer umflogen haben. Immer am Stadtrand entlang, dem Fayyoum entgegen. Es beruhigt angesichts der Maßlosigkeit, welche die tausendjährige "Unbesiegbare" von der Vogelwelt gesehen ans Licht legt, daß wenigstens einige Naturgesetze gültig bleiben.

Ein anderes "Gesetz" besagt, daß die Größe einer Stadt in einem vernünftigen Verhältnis zur sie umgebenden und mit Nahrungsmitteln versorgenden landwirtschaftlichen Fläche stehen muß. Hat Kairo die so gezogenen Grenzen schon überschritten? Während das alte Kairo ebenso wie die in den 70er Jahren im Osten angeschlossene Nasr-City im allgemeinen nur unfruchtbaren Wüstenboden überdeckte, wachsen jüngere Erweiterungen nach Norden und Süden, vor allem aber die Stadt Giza im Westen immer tiefer in fruchtbares Kulturland hinein. Das Wachstum der Stadt auf landwirtschaftlichen Flächen hat sein 1973 in erheblichem Ausmaße zugenommen.

Die bebaute Fläche der Stadt betrug noch 1945 8.000 Hektar, hatte sich bis 1968 schon auf 16.000 Hektar verdoppelt, erreichte 1973 20.000 Hektar und 26.000 Hektar im Jahre 1984: eine Verdreifachung in 40 Jahren. Allein in den fünf Jahren von 1973 bis 1978 vergrößerte sich Kairo um 28%.

Mehr als Dreiviertel dieses Wachstums vollzog sich auf Agrarland, und das, obwohl jede Umwandlung von Agrarfläche in eine Fläche anderer Nutzung seit 1973 verboten und seit 1978 mit Gefängnisstrafen bedroht wird – auf dem Papier!

Auf Deutsch: Mindestens ein Sechstel des heutigen Stadtgebietes – ganze Vororte mit jeweils mehreren Hunderttausend Einwohnern – sind vollständig illegal. Staatlichen Stellen bleibt angesichts einer Baufront von vermutlich über 100 Kilometern Breite nichts anderes übrig, als die Augen zu verschließen. Es ist nicht verboten und berechtigt nicht zum staatlichen Eingreifen, daß ein Bauer sein Land verkauft. Dafür müßte der Baubeginn abgepaßt werden – eine Aufgabe, die kaum zu leisten ist. Das Wachstum vollzieht sich in Sprüngen. Ein Bauer verkauft eine Parzelle 50 Meter vom Stadtrand, der Streifen wird vollständig bebaut, andere Streifen Land folgen, bis die Lücken gefüllt sind. Einmal begonnen, ist ein solcher Prozeß nicht mehr zu stoppen.

Dieser städtische Wildwuchs erhöht letztlich durch Ackerlandvernichtung die Nahrungsmittelabhängigkeit eines Landes, dessen kultivierbare Flächen zugleich nur drei Prozent der Landesfläche bedecken, gleichwohl aber die wichtigste Ressource darstellen.

In der wissenschaftlichen Literatur zum Thema werden unterschiedlichste Ursachen der entstandenen Situation genannt:

  • Nicht ausreichende staatliche Wohnungsbauprogramme (lediglich 7% aller von 1966—1976 entstandenen Wohnungen), v.a. zu wenig Impulse zur Besiedlung von Wüstenland.
  • Unmöglichkeit für 75—90% der Bevölkerung, im legalen privaten Wohnungsmarkt unterzukommen.
  • Vollständige Sättigung des Wohnraumes in der Innenstadt.
  • Die Umwandlung von Wohnraum in Büro- und Kleinindustrieflächen läßt zudem seit Jahren die Bevölkerungszahl der Innenstadt schrumpfen.
  • Die erwähnte staatliche "Toleranz" hat spekulative Investitionen privater Kapitaleigner am Stadtrand ermutigt, welche sorglos mit der nachträglichen "Legalisierung" neu entstandener Viertel kalkulieren konnten.
  • Eine enorm wichtige Rolle spiel(t)en die Überweisungen der drei Millionen ägyptischen Gastarbeiter in den Golfstaaten. Von den jährlich etwa 4 Milliarden Dollar wurden schätzungsweise 1,5 Milliarden in Grundstücke und Neubauten investiert. Einerseits zur Errichtung von Wohnbauten für die Familie, andererseits für Grundstücksspekulation als eine der sichersten und rentabelsten Geldanlagemöglichkeiten. Eine kurze Rechnung mag das verdeutlichen: kostete der Quadratmeter in Boulaq el-Dakrour 1975 noch 7 Pfund, so stieg der Preis in nur 10 Jahren auf 70 Pfund und läßt sich heute (je nach Lage) für 200 bis 400 Pfund verkaufen. 1000 Pfund, 1975 in Ackerland angelegt, sind heute 28.000 bis 57.000 Pfund wert. Die theoretische (nicht inflationsbereinigte) Verzinsung mag sich der Leser selbst errechnen.

Wie also soll es weitergehend? Für Späße ist angesichts dieser Situation wenig Anlaß. Dennoch lohnen sich einige Gedanken zur sprachlichen Regelung des beschriebenen Prozesses.

"Wuchert" die Stadt? Pflanzen wuchern zur Sonne, oft auch über einen Abgrund wurzelnd, aber stets in einer natürlichen Relation zur wichtigsten Basis: nicht haltlos, sondern auf verfügbarem Mutterboden und Wasser.

Ist die Stadt vielleicht mit einem gewaltigen Hefeteig vergleichbar? Auch dies ist fraglich. Zwar dehnt sich Kairo wie ein Hefekuchen relativ gleichmäßig aus, aber ein Ende des Wachstums ist im Gegensatz zum Hefeteig nicht abzusehen. Die Ausdehnung eines Teiges hat ein natürliches, durch die eingesetzte Hefemenge voraussehbares Ende. Und ab einem bestimmten Punkt dreht sich der Prozeß um: der entstandene Kloß fällt wieder in sich zusammen.

Also doch ein Krebsgeschwür, ein steinerner Tumor im Agrarland? In der Regel vergrößern sich Krebsgeschwüre nicht gleichmäßig, sie sind auf bestimmte Organe konzentriert, davon ausgehend wachsen Metastasen oft regellos, befallen auch umliegendes Gewebe und können schließlich den gesamten Organismus zu Tode führen. Doch haben sich Prognosen, denen zufolge die Stadt, "falls diese bis zum Jahr 2000 auf 9 Millionen Einwohner anwachsen sollte", "sterben" würde, nicht halten können...

Alle Vergleiche hinken. Kairo ist Kairo, bei erstaunlich guter Gesundheit, vital – eben unvergleichlich.

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Kairos neue Oper wird eröffnet
von Jasmin Fouad

Papyrus-Logo Nr. 10/88, pp. 54—56

Nachdem das alte Opernhaus 1971 abbrannte, blieb für viele Jahre der Wunsch zahlreicher Ägypter nach einem neuen Opernhaus unerfüllt. Als Präsident Mubarak 1983 Japan besuchte, beschloß die japanische Regierung, Ägypten auf dem Kultursektor zu unterstützen. Es wurde vereinbart, in Kairo ein Kulturzentrum zu errichten mit drei Schwerpunkten:

  1. einem Opernhaus für Aufführungen ägyptischer und internationaler musikalischer Schöpfungen
  2. einem Kongreßzentrum
  3. einer Ausbildungsstätte für junge ägyptische Talente.

Das Kulturzentrum wurde auf einem Areal von 45.000 m² auf dem ehemaligen Ausstellungsgelände im Stadtteil Zamalek erreichtet. Der bis zu sechs Stockwerke hohe Gebäudekomplex enthält drei Theater, eine Haupthalle (1.300 Plätze), eine kleine Halle (500 Plätze) und ein Freilichttheater (600 Plätze). Dazu kommen Künstlergarderoben, Räume für Proben und Unterricht und Werkstätten. Ein Museum, eine Bibliothek, eine Kunstgalerie, ein Restaurant und ein VIP-Raum vervollständigen die Anlage. Eine Dauerausstellung ägyptischer Kunst (152 Gemälde, 22 Statuen, 11 Porzellanfiguren und wertvolle Teppiche) dekoriert den Eingang.

Das Signet des neuen Kulturzentrums ist sowohl auf offiziellem Briefpapier wie auf den Uniformen der Angestellten und Arbeiter zu finden. Die Bauzeit für die "Oper" – wie das Zentrum kurz genannt wird – betrug nur 34 Monate, von Mai 1985 bis März 1988.

Am 10.10.1988 soll die Oper feierlich eröffnet werden. Die Eintrittspreise stehen noch nicht fest, sie werden etwa zwischen LE 5 und LE 30 liegen. Für die Eröffnungsvorstellung gelten allerdings nur Einladungen.

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Fingerzeig Zu weiteren Problemen der aktuellen Stadtentwicklung siehe auch die Rubriken
         Kairener Stadtteilsanierung
         Stadtplanung in Ägypten

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