Begegnung als persönliche Erfahrung
    Inhalt:
    Schüleraustausch: Eindrücke ägyptischer Schüler von Hameln
    Historische Mißverständnisse – Erfahrungen einer jungen Deutschen in Kairo
    Heidi am Nil: Anspruch und Wirklichkeit deutscher Au-pairs und ihrer äg. Gastgeber
    Die Kneipe um die Ecke fehlt
    Von Kairo nach Berlin – ein Umzug und seine Folgen
    Als Fremder in Deutschland

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Schüleraustausch: Eindrücke ägyptischer Schüler von Hameln
von Harald Schlegel

Papyrus-Logo Nr. 2/84, pp. 27—30

Bekannt ist seit Jahren der Austausch der 11. Klassen mit Deutschland; weniger bekannt dagegen, daß auch die Schüler der 7. und 8. Klassen der neuen Sekundarstufe, 13—14 jährige Mädchen und Jungen, einen Austausch machen, und zwar mit einer Realschule in Hameln. Frau Gnauck, die mehrere Jahre in dieser Stufe unterrichtet, wagte 1981 das Experiment, mit diesen Kindern, die erst seit 3 bzw. 4 Jahren die DEO besuchen und Deutsch lernen, in die Rattenfängerstadt zu reisen. Die Kinder, die weitgehend aus traditionell eingestellten ägyptischen Familien stammen und oft zum ersten Male im Ausland waren, sollten vor ihrer Integration in die deutschen Klassen lebendiges Deutsch kennenlernen, deutsche Landschaft, deutsches Leben erfahren. Was fiel nun diesen recht jungen Ägyptern auf ? Wie sehen sie das Land, dessen Sprache sie lernen, in dessen Bildungsvorstellungen sie erzogen werden? Hier nun eine Auswahl von häufig wiederkehrenden Beobachtungen und Urteilen.

Es sind zuerst auffällige Unterschiede:
"Wir beobachteten die Wälder, die in Ägypten selten sind." – "Es gibt sehr viel mehr Grün als hier." – "Hameln ist eine schöne Stadt" (einige Schüler meinen: "ein modernes Dorf"), "in der ein jeder ein großes Haus haben kann." – "Alle Straßen sind breit und sauber, die Busse kommen pünktlich zur Haltestelle, nicht wie hier. " – "In jeder Straße finden wir eine Telefonzelle."

Die Fahrradwege werden erwähnt und gelobt, die Fußgängerzonen werden bewundert, die Ruhe in der Stadt, die Sauberkeit auf den Straßen. "Es hat mir dort gefallen, daß die Leute sich an die Regeln halten." – "Keiner in Deutschland läßt z.B. das Auto waschen wie hier, sondern man macht das selber."

Kritisch dagegen werden vor allem die Schule und das Familienleben betrachtet. Dazu einige Beispiele:
"Das Verhältnis in der Familie hat mir nicht gefallen. Die Eltern sitzen nicht mit ihren Kindern zusammen und sprechen über ihre Probleme, sondern sie sprechen mit ihnen über äußere Dinge. Auch die Kinder sind meistens unhöflich zu ihren Eltern." – "Jeder geht in sein Zimmer, schließt das Zimmer und macht, was er will." Die meisten Kinder meinen: "Ach, die Eltern sind doof. Wir müssen uns nicht nach ihnen richten." – "Sie machen einfach, was sie richtig finden."

Daneben finden sich aber auch Äußerungen wie diese: "Als ich in Deutschland war, merkte ich, daß die Familien dort auch wie bei uns in Ägypten sind. Ich meine, die Leute sind sehr freundlich zueinander, sie sind sehr nett wie Familien oder wie manche Familien in Ägypten."
Es ist wohl nicht leicht zu entscheiden, wie weit negative Urteile Spiegelungen vorgeprägter ägyptischer Meinungen über Deutschland sind oder wirklich eigene Erfahrungen wiedergeben.

Recht einhellig sind dagegen die Aussagen über die Realität der deutschen Schule:
"Die Schüler wollen nicht unbedingt in der Schule weiterkommen, weil sie sowieso die Schule nach der 9. oder 10. Klasse verlassen und irgendwo arbeiten können. Dieser Beruf wird nicht schlimm, sondern ein guter Beruf sein, entweder in einer Firma oder einer Fabrik. Ich kenne auch eine Frau, die Abitur gemacht und Pädagogik gelernt hat, aber jetzt keine Stelle findet. Deshalb denken die meisten in Hameln, daß es dumm ist, wenn man Abitur macht, viel büffelt und danach keine Stelle findet."

Diese Haltung erstaunt unsere Schüler zwar, sie finden es aber gut, daß in Deutschland handwerkliche Berufe anerkannt seien, während man in ihrem eigenen Land gesellschaftliches Ansehen erst durch ein akademisches Studium erringe: "Was auch bei den deutschen Jugendlichen gut ist: irgendein Beruf ist gut, wenn man gut verdient; aber bei uns in Ägypten meinen die Leute, daß man in der Universität studieren soll, damit man nachher ein guter Mensch wird."

Oder ein anderer:
"Die Schüler halten die Schule und die Noten für unwichtig, nicht wie hier in Ägypten. Der Schüler, bei dem ich wohnte, hat oft Fünfer und Sechser bekommen und hat trotzdem gelacht." – "Die ganze Zeit, die ich in Deutschland war, habe ich beobachtet, daß mein Freund nie gelernt hat. Trotzdem bekam er Einser und Zweier." Arbeiten, so meint er weiter, würden auch von der Familie nicht für wichtig genommen, im Gegensatz zu Ägypten, wo man die Aussagen des Lehrers wichtiger nehme und mehr lerne. "Einige Schüler interessierten sich nicht für die Stunden, sie spielten miteinander, lachten, machten viel Unsinn und malten. Der Lehrer mußte sich viel Mühe geben, damit sich die Schüler konzentrierten. Der Lehrer dort hat es also nicht leicht mit den Schülern, besonders den Schülern von 15—17 Jahren."

Einem Mädchen fiel folgendes auf : "Die (ägyptischen) Schüler sollten auch ein Betriebspraktikum machen; ich glaube, daß dies interessant ist und den Schülern eine Vorstellung davon gibt, was sie am liebsten machen oder arbeiten wollen."

Fast alle Schüler empfinden die Schule in Deutschland als leichter – doch sollte man zwei Dinge nicht vergessen: einmal stellen die deutschen Schüler ihre Arbeit zurück, um sich mehr ihren Gästen widmen zu können (was denken wohl unsere Besucher über unsere Arbeitsbelastung, wenn wir sie überall herumführen und ihnen jederzeit zur Verfügung stehen?!). Zum anderen stehen die jungen Ägypter in einem unglaublichen Streß. In der 5. Klasse beherrschen sie z.B. noch nicht einmal die lateinische Schrift und in der 7. Klasse lernen sie bereits Mathematik und Biologie auf Deutsch. Sie haben im Durchschnitt 41—43 Wochenstunden Unterricht.

Das Verhältnis zu den Gastfamilien wird ohne Ausnahme gelobt: vor allem die herzliche Aufnahme, das Bemühen, das fremde Kind zu integrieren, die Aufgeschlossenheit anderen Lebensgewohnheiten oder hygienischen Vorstellungen gegenüber. "Als ich in den Bus einstieg, hat die ganze Familie geweint, so wie ich", sagt ein Junge und fährt fort: "Meine Freundin wollte, daß die Zeit schneller geht, bis sie Ägypten besucht". Wir wissen, daß die Kontakte über Jahre bis heute gepflegt werden.

Zum Schluß noch einige Beobachtungen:
"Im Zoo waren die Affen nicht in Käfigen. Warum weiß ich nicht. Aber auf alle Fälle ist es besser als in Kairo." – "Ich merkte, daß die Leute in Hameln dachten, daß Ägypten nur Palmen, Kamele und Wüste hat. Für mich war das unerwartet. Ich sagte: 'Nein, wir haben alles, was es bei euch gibt: Autos, Flugzeuge, Züge. Ägypten ist doch ein modernes Land, aber nicht alle Leute haben Ausdauer wie ihr hier in Deutschland. Aber die Leute arbeiten in Ägypten, und nach kurzer Zeit werdet ihr sehen, daß Ägypten genauso wie Deutschland wird.'" – "Aber was nicht so freundlich war, daß die Leute uns als Türken ansahen. Deshalb waren sie zuerst unfreundlich zu uns. Aber die Zeitungen haben eine Reportage über unseren Schüleraustausch geschrieben, und nach dieser Reportage waren die Leute in Hameln sehr nett zu uns." – "In Deutschland sind die Straßen, Häuser, Geschäfte, die Natur viel schöner als in Ägypten, aber die Menschen sind in Ägypten. viel netter und freundlicher zu einem..."

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Historische Mißverständnisse –
Erfahrungen einer jungen Deutschen in Kairo

von Hanna Lücke

Papyrus-Logo Nr. 11/87, pp. 40—41

Hanna Lücke studiert vergleichende Religionswissenschaft in Bonn und hat zwei Auslandssemester in Kairo verbracht.

"Where you from?" fragte mich vor einiger Zeit ein Taxifahrer mit rundem Gesicht und gutmütigem Lächeln bei meiner Fahrt ins Stadtzentrum von Kairo. – "Almania." – "Ah – Almania gut, gut, gut!"
Etwas überrascht nahm ich die mir aus Europa ungewohnte freudige Reaktion ob meines Herkunftslandes zur Kenntnis. "Sie mögen Deutschland?" – "Ja, ja sehr, Heil Hitler!"

Heute bin ich nicht mehr überrascht. Noch öfter bin ich in Ägypten auf diese merkwürdige Begeisterung für Deutschlands einstigen "Führer" gestoßen. Von unzähligen Buchständen starrt mir zwischen den fremdartig anmutenden arabischen Schriftzeichen ein bekanntes Gesicht entgegen: Hitler, mit weitaufgerissenem Mund und grimmigem Blick unterm Hakenkreuz Vor einem Schlachtfeld. Darüber der Titel: "Kifahi" – "Mein Kampf", in Arabisch. Dieses Buch scheint guten Absatz zu finden.

Sympathiekundgebungen für Hitler sind zwar eigenartigerweise unter Taxifahrern besonders verbreitet, doch auch in gebildeten Kreisen und unter Leuten, die Kontakt mit Deutschen pflegen, zu meiner Überraschung anzutreffen. "Hitler war doch ein starker Führer", erklärt mir der 22jährige Mahmud, ein Absolvent der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo. "Ich verstehe gar nicht, warum die Deutschen ihn heute so schlecht machen!" Ich verstehe nicht, warum er von den Ägyptern so verehrt wird und wundere mich.

Die Vertiefung zahlreicher Gespräche zu diesem Thema bringt mich der Lösung des Rätsels näher.
46 Jahre ist es her, daß sich der "Wüstenfuchs" Rommel im Kampf mit den Briten Meter um Meter der ägyptischen Wüste und somit die Herzen der Ägypter eroberte. Denn zu dieser Zeit wurden besonders in den ärmeren Bevölkerungsschichten immer mehr Klagen über die stationierten britischen Truppen laut, die sie – selbst am Hungertuch nagend – nicht mitversorgen wollten. Besonders die während britischer Anwesenheit aufblühenden Vergnügungslokale mit Alkohol und Prostitution erregten den Unmut der tiefreligiösen Ägypter. So wurde die Armee Rommels als willkommener Befreier begrüßt, ohne daß sie, zum vorzeitigen Rückzug gezwungen, Gelegenheit hatte, nun ihrerseits das gleiche Benehmen wie die Briten an den Tag zu legen.

Trotz des letztendlichen Mißerfolges loben viele Ägypter noch heute die Deutschen als "mutigstes Volk der Welt", und im Anschluß betonen sie immer wieder die besondere Verbundenheit des deutschen mit dem ägyptischen Volk. Ebenso wie es mich schmerzt, daß Deutschland hier nun gerade wegen der Hitlerzeit geschätzt wird, tut es mir leid, diesen zumeist einfachen und wohlwollenden Menschen die Augen darüber zu öffnen, daß die meisten Deutschen von dieser besonderen Verbundenheit zum ägyptischen Volk wohl noch nie gehört haben, und ich verzichte meistens darauf. Um so mehr bemühe ich mich, ihr Geschichtsbild ein wenig zurechtzurücken, denn nur wenigen Ägyptern war und ist bekannt, um welche Inhalte in diesem Krieg eigentlich gekämpft wurde, und wie die Ideologie Hitlers wirklich aussah. "Nein, Hitler hat nicht angefangen zu kämpfen, weil Juden und Briten gemeinsam in Deutschland einmarschiert sind. Nein, er hat die Juden nicht umgebracht, weil sie Probleme im Nahen Osten gemacht haben, sondern viele von ihnen haben nur deshalb Probleme im Nahen Osten gemacht, weil sie sonst von ihm umgebracht worden wären. Nein, sechs Millionen sind umgekommen, nicht sechshundert. Nein, Hitler war kein ausgesprochener Freund der Ägypter. Ja – auch ihr seid in seinen Augen minderwertig!"

Die "Judenfrage" ist in Ägypten, wo heute kaum noch Juden ansässig sind, schwer von den Beziehungen zum Judenstaat Israel zu trennen, wie man auch in der Umgangssprache kaum von "Israelis", sondern von "Juden" schlechthin spricht. Die in Ägypten sehr lebendigen klassischen antijüdischen Vorurteile, der in den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten 40 Jahre gewachsene Haß gegen die Israelis und die Verehrung Hitlers gipfeln in Aussprüchen wie dem des jungen Zahnarztes Salah: "Nur eins gefällt mir nicht an Hitler – er hätte besser alle Juden vergasen sollen!" Mit lachenden Augen wirft Salah diesen Satz in die Unterhaltung, so daß ich glaube, er scherze. Er scherzt nicht.

Ich möchte keine neuen Vorurteile – gegen Ägypter – in die Welt setzen. Nicht alle verehren Hitler, und nicht alle, die ihn verehren, würden sich der Meinung Salahs anschließen, ganz abgesehen von denen, für die die nationale oder religiöse Zugehörigkeit eines Menschen wirklich nicht von Bedeutung ist. Haß und Vorurteile gibt es überall. Doch daß es hier die gleiche Unwissenheit ist, die diesen Haß nährt, und die zur Verehrung ausgerechnet eines der schwärzesten Kapitel in der Geschichte meines eigenen Landes führt, macht mich besonders persönlich betroffen.

Aber trotz allein: selbst Salah scheint mir kein Unmensch zu sein. Ich kann das Gefühl nicht loswerden: Die Ägypter reden schnell vom Haß, aber in der Praxis fällt ihnen das Hassen doch nicht so leicht. Wie oft habe ich böse Worte gegen die Israelis fallen hören, um kurz darauf festzustellen daß israelische Touristen mit der gleichen warmherzigen Höflichkeit und Neugierde empfangen wurden, wie andere Ausländer auch, und dabei wahrscheinlich viel schneller auf Hilfsbereitschaft stießen, als es in Deutschland der Fall wäre. Die Ägypter sind ein ausgesprochen freundliches und friedfertiges Volk. Der Frieden von Camp David wird vom Großteil der Bevölkerung befürwortet, und in Diskussionen zeigen sie sich neuen Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Die Schärfe der Urteile läßt sich zumeist durch Unwissenheit erklären. Ich habe den Eindruck, daß sie ganz gerne bereit sind, an ihrem Kartenhaus "Haß" rütteln zu lassen. Doch ob es auch wirklich so leicht einstürzt?

Nach langer Diskussion mit Salah, in der ich ihn zu überzeugen suchte, daß es überall, unter Juden, Deutschen, Ägyptern und auch Israelis und Palästinensern solche und solche Menschen gibt, bemerkte er schließlich, wiederum stellvertretend für viele seiner Landsleute: "Wissen Sie, die Palästinenser..., die hasse ich auch. Diese Leute machen nur Probleme. Unter den arabischen Völkern sind sie die, die den Juden am nächsten stehen."

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Heidi am Nil –
Anspruch und Wirklichkeit deutscher Au-pairs und ihrer ägyptischen Gastgeber

von Ute Lainck-Kuse

Papyrus-Logo Nr. 11/88, pp. 39—42

Die Schule hat begonnen – nun kommen auch sie wieder, die neuen Au-pair-Mädchen aus Deutschland.
Nennen wir sie Heidi und Ulrike.

Heidi hat das Abitur und wartet auf einen Studienplatz oder möchte ganz einfach erst einmal etwas anderes machen: hinaus in die Welt, andere Länder, andere Sitten kennenlernen, bevor sie sich wieder auf die nächste Schul- bzw. Universitätsbank setzt.

Oder Ulrike, die ihre Ausbildung als Erzieherin gerade beendet hat und die Stellenangebote in der Zeitung studiert: "Ägyptische Familie in Kairo sucht deutsches Au-pair-Mädchen (Erzieherin bevorzugt) zur Betreuung ihrer Kinder, die die Deutsche Schule besuchen... zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung in den Deutschen Kindergarten bzw. zur Mithilfe bei den täglichen Hausaufgaben..."

Nun, das ist doch was. Eigentlich wollten sie ja nach London oder Paris, aber warum nicht nach Kairo? Freie Unterkunft und Verpflegung, ein Taschengeld und sogar das Flugticket wird bezahlt. Das andere werden sie schon schaffen. Sie korrespondieren und telefonieren. Ulrike und Heidi werden engagiert. Sie landen in Kairo.

Doch Kairo ist eben nicht London oder Paris.

Haben die Großeltern zu Hause noch Bedenken, daß ihre 20-jährige Enkelin allein in ein arabisches Land fliegt, so bewundern Eltern, Geschwister und Freunde den Mut von Heidi und Ulrike und beneiden sie um diese Möglichkeit. Endlich frei und unabhängig zu sein, selbstbewußt und offen für alles Neue und Andersartige, die Welt kennenlernen: dies wird in Europa – ob für Mädchen oder Junge – zweifelsfrei als positive Chance angesehen.

Anders in einem Land wie Ägypten. Unverheiratete Mädchen müssen behütet und beschützt werden, damit sie unberührt eine Ehe eingehen können. Selbständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit vor der Ehe werden somit in erster Linie als Gefahr definiert, die es möglichst einzugrenzen gilt. Verläßt ein Mädchen aus gutsituierter Familie nach Schulabschluß das Elternhaus und geht gar ins Ausland, dann bestenfalls zu Studienzwecken, aber sicherlich nicht, um freiwillig auf eigenen finanziellen Füßen zu stehen und sich auch noch auf die Stufe eines Kindermädchens zu begeben. Ein Au-pair-Mädchen unternimmt also etwas, was eine junge Ägypterin nie täte.

Sind die Gasteltern noch diesen westlichen Verhaltensweisen gegenüber aufgeschlossen, so sind es spätestens die Nachbarn und Verwandten, die ein solches Mädchen als "leicht" einstufen und offen bemerken: Was will die eigentlich in Ägypten, die will doch nur das "eine". Heidi und Ulrike würden solche Denkweise empört oder belustigt von sich weisen.

Aber noch bemerken sie diesen Argwohn nicht. Ihre Gastfamilie empfängt sie mit offenen Armen. Heidi freut sich auf einen grünen Villenvorort von Kairo, wohnt ihre Familie doch in "Garden City". Vom Fenster des Kinderzimmers im 6. Stock eines Hochhauses sucht sie allerdings vergeblich nach etwas Grün. Und hatte sie nicht im Brief gefragt, ob sie ein eigenes Zimmer bekäme? Man hatte ihr geantwortet, man bewohne zu viert ein 6-Zimmer-Appartement. Daß es sich aber um drei ineinandergehende Salons, ein Arbeitszimmer und nur zwei Schlafräume handeln könnte, darauf wäre Heidi nie gekommen. Also teilt sie mit den Kindern ein Zimmer.

Ulrike indessen packt die Koffer in "ihrem" großen, hellen Zimmer aus. Auf dem Nachttisch steht eine Schale mit Obst, im Badezimmer liegen Seife und Shampoo für sie bereit. In den ersten Tagen zeigen ihr die Gasteltern die Stadt und die neue Umgebung. Zwar ist sie etwas traurig, daß der 4-jährige Mustafa sie noch ablehnt und sie stets daran erinnert, daß ihre Vorgängerin alles ganz anders und besser gemacht habe, aber sie weiß, daß sie Geduld haben muß, und daß es für Mustafa auch nicht leicht ist, sich wieder auf eine neue Bezugsperson einzustellen. Was sie denn als Taschengeld erwarten könne? Nun, sie dürfe sich nehmen, was sie brauche, und das Flugticket für den Weihnachtsurlaub in Deutschland werde auch gestellt. Orientalische Gastfreundschaft und Großzügigkeit – Ulrike ist glücklich.

Drei Monate später. Während Ulrike nach wie vor begeisterte Briefe nach Hause schreibt, hat Heidi ihre Koffer gepackt und ist gegangen. Sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten. Nach den Ursachen gefragt, nennt sie die berühmten Kleinigkeiten, die – einzeln genommen – nicht der Rede wert sind, aber täglich die Atmosphäre belasten und das Faß zum Überlaufen bringen.

Die Rolle eines Au-Pair-Mädchens ist mit unterschiedlichen Erwartungen besetzt. In Europa: Ein fester Begriff für junge Leute, die ihren Auslandsaufenthalt und ihre Sprachstudien durch eine Halbtagsbeschäftigung finanzieren und dafür freie Unterkunft, Verpflegung und ein Taschengeld erhalten. Hier in Ägypten: Deutschlehrerin und Kindermädchen, die möglichst jederzeit zur Verfügung stehen sollen.

Zwar soll Heidi vorwiegend nachmittags für die Kinder da sein, doch zeigt die Erfahrung, daß sie nach und nach auch vormittags Aufgaben zu übernehmen hat. Nach dem Frühstück, bitteschön, ein bißchen Staub wischen, ein bißchen einkaufen, aufräumen, bügeln, keine schwere Arbeit. Bis dann die Kinder aus der Schule kommen, bleiben noch zwei Stunden. Für die Sprachenschule und zurück reicht die Zeit nicht, der Weg ist zu weit. Und liegen die Kinder endlich um 21 Uhr im Bett, ist es draußen dunkel, und wo kann man dann als Mädchen noch hingehen? Sie fühlt sich eingesperrt, so hatte sie sich ihr Au-pair-Dasein nicht vorgestellt. Die Frustration schleicht sich ein.

Der freie Tag winkt. Sie möchte Tennis spielen oder schwimmen. Damals hatte Naima, ihre Gastmutter, geschrieben, sie zahle für Heidi die Mitgliedschaft in einem Sportklub. Mit den Kindern war sie auch schon einmal dort.

Sie erkundigt sich und zeigt ihre Mitgliedskarte. Im Office schüttelt man den Kopf, sie habe eine "Nanny-Card", mit der sie lediglich als Begleitperson von Kindern auf den Spielplatz des Klubs dürfe. An eine normale Mitgliedschaft ist finanziell gar nicht zu denken. Also nichts mit Sport.

Sie geht ins Museum und staunt, daß Ausländer erheblich mehr zahlen müssen als Ägypter. Es sollte doch alles viel billiger in Ägypten als in Deutschland sein! Ob das Taschengeld von LE 125,- bis zum Monatsende überhaupt reicht?

Zu Hause wird sie mißtrauisch empfangen: ein junger Mann habe angerufen. Es ginge nicht, daß sie die Telefonnummer an fremde Männer weitergebe. Ein Freund ihres Bruders ist in Kairo und lädt sie für den nächsten Abend zum Essen ein. Es wird ein schöner Abend, sie kommt spät nach Hause. Am folgenden Morgen die große Szene: Sie hätte sich unmöglich benommen und dem guten Ruf der Familie geschadet. Ein lediges Mädchen könne nicht nach Mitternacht nach Hause kommen, was man denn von ihr denken müßte. Und überhaupt, wer dieser Mann denn sei, mit dem sie da ausgegangen wäre? Heidi versucht zu diskutieren und zu erklären. Zwar sprechen sie und Naima die gleiche Sprache – deutsch oder englisch – aber jede meint etwas anderes. Heidis Argumente gehen im lautstarken Wortschwall der Gastmutter unter. Hatte Heidi sich anfangs noch als Gast und Freundin der Familie empfunden, zumal sie die Gasteltern duzen darf, so kippt das Verhältnis jetzt um – mit Dienstboten diskutiert man nicht lange, man befiehlt – hallas!

Zu allem Überfluß ist Heidi das Essen gestern abend nicht bekommen. Ihr sei übel, ob sie sich zwei Stunden hinlegen dürfe? Doch jetzt ist es ganz aus: auch noch krank spielen, das hätte ihr so gepaßt. Was sie sich denn überhaupt vorgestellt habe, das bißchen Hausarbeit und Kinderbetreuung wäre ja wohl nicht zuviel verlangt. Wenn ihr das alles nicht passe, könne sie ja gleich gehen.

Von Naima, der Gastmutter, zwar nicht wörtlich gemeint, aber von Heidi wörtlich genommen – sie packt die Koffer und geht. Ärger auf beiden Seiten.

Natürlich gibt es Heidi in dieser Überzeichnung nicht, und doch sind es alles erlebte Beispiele verschiedener Au-pair-Mädchen. Tatsache ist auch, daß über die Hälfte der schätzungsweise 30 Au-pairs, die im vergangenen Schuljahr in Kairo waren, vorzeitig ihre Gastfamilien verlassen bzw. die Familie gewechselt haben. Das muß nicht sein!

Hätten Heidi und Ulrike voneinander gewußt, es wäre möglicherweise anders gelaufen. Sie hätten miteinander reden, gemeinsame Ausflüge machen können, so wie es seit vielen Jahren die zahlreichen Au-pair-Klubs in England, Deutschland und Frankreich anbieten.

Ich erinnere mich an meine eigene Zeit als Au-pair-Mädchen in Paris und als Gastmutter in Bonn. In beiden Fällen war ich froh über die Möglichkeit dieser Au-pair-Treffs, wo junge Mädchen in einem fremden Land die ersten Kontakte knüpfen können. Im vergangenen Herbst bot ich deshalb deutschen Au-pair-Mädchen in Kairo an, sich bei mir zu treffen und kennenzulernen. Eine erzählte es der anderen. Mit zwei Au-pairs fing ich an, ca. 20 Mädchen waren es im Laufe des Schuljahres bei den monatlichen Gesprächsabenden.

Aber: Kairo liegt nicht in Europa.
Wurde mein Angebot von den Mädchen noch dankbar aufgegriffen, so war ich erstaunt, daß die ägyptischen Familien äußerst mißtrauisch reagierten. Sie schickten zwar die eigenen Kinder auf eine Deutsche Begegnungsschule, aber die Begegnung der Au-pairs untereinander war ihnen ein Dorn im Auge. Sie warnten mich, es würde Ärger geben, die Mädchen würden sich gegenseitig beeinflussen und "depressiv" werden, wenn sie von den Problemen anderer erführen. Im Gegenteil, sie lachten viel, und war wirklich mal eine von ihnen "down", so ging sie nach dem gemeinsamen Gespräch wieder mit neuem Mut an die Arbeit. Der Verdacht, Familienangelegenheiten könnten über die Au-pairs weitererzählt werden, bestätigte sich nicht. Äußerste Diskretion ist oberstes Gebot und wird strikt eingehalten.

Das Mißtrauen nimmt ab. Inzwischen rufen immer mehr ägyptische Familien an, die ein Au-pair-Mädchen suchen, und deutsche Mädchen bitten schriftlich um die Vermittlung einer Au-pair-Stelle in Kairo.

Trotzdem – es ist nicht beabsichtigt, eine Vermittlungsstelle aufzubauen. Vielmehr soll die Möglichkeit erhalten bleiben, daß Au-pair-Mädchen sich zum Gedankenaustausch treffen können. Einzelgespräche und Beratung auf Anfrage sollen auch weiterhin möglich sein und nur in besonderen Fällen auch die Vermittlung zwischen ägyptischen Gastfamilien und deutschen Au-pair-Mädchen.

Einmal begonnen, habe ich darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll. Irgendwann werde ich dieses Land wieder verlassen und dann? Also ist es logisch, diese Aufgabe langfristig von meiner Person zu lösen und an eine Institution anzubinden.

Dies ist geschehen. In seiner September-Sitzung hat der Vorstand der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo beschlossen, die Betreuung der deutschen Au-pair-Mädchen zu übernehmen und fortzuführen. Dies entspricht ohnehin einer langjährigen Tradition in Deutschland. Dort ist der "Verein für internationale Jugendarbeit" – ein Fachverband innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland – für die Au-pair-Betreuung zuständig.

Aber noch einmal: Kairo liegt nicht in Europa. Ein Verein soll's nicht werden.
Die Einladung an die Au-pair-Mädchen bleibt bestehen. Nach Konfession wird nicht gefragt. Auch die Gasteltern sind herzlich eingeladen, mit uns das Gespräch aufzunehmen.
In Abstimmung mit der Deutschen Botschaft ist ein Merkblatt für einen Au-pair-Aufenthalt in Ägypten entstanden.

Kehren wir zurück zu Ulrike. Sie hat es geschafft, Vertrauen zu gewinnen, sich hilfsbereit und flexibel den Bedürfnissen ihrer Gastfamilie anzupassen, aber auch die eigene Belastungsgrenze richtig einzuschätzen, ihre Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Mustafa hat mit ihrer Hilfe seine Deutschkenntnisse erheblich verbessert. Sie hat einen netten Bekanntenkreis gefunden, fühlt sich wohl und – last not least – wird ihren Aufenthalt in Kairo verlängern.

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Die Kneipe um die Ecke fehlt
von Nulf Schade

Papyrus-Logo Nr. 11/88, pp. 23—25

Anmerkung der Redaktion: Pastor Nulf Schade leitet den wöchentlichen Jugendtreff.

Ich schreibe "über", obwohl ich aus dem Alter heraus bin, ich schreibe "über", obwohl sie selbst schreiben sollten. Die Kommunikation fand statt, es zu Papier zu bringen, war schwierig. So schreibe ich über Jugendliche in Ägypten, deutsche und ägyptische, oder beides, werde als Sprachrohr verwendet, schreibe nieder, was ich erfahren habe, beim Jugendtreff, auf dem Schulhof, in den Pausen, beim Spielen, was mir erzählt wurde von Jugendlichen, die in Ägypten leben.

Ich schreibe nicht über die Jugendlichen, die wir in den Straßen treffen, jeden Tag, die ihr Geld verdienen, indem sie einem Autobesitzer das Auto waschen, mal schnell am Halten an der Ampel; ich schreibe nicht über die Jugendlichen, die auf der Straße nach Arbeit am Traum vom Reichtum zerbrechen; auch nicht über jene, die täglich den Kampf ums Überleben führen. Meine Jugendlichen gehen mit einer Ausnahme auf die Deutsche Evangelische Oberschule, sind also erst einmal privilegierte junge Menschen.

Es wäre falsch, anzunehmen, daß diese Jugendlichen keine Probleme haben, obwohl sie keinen Kampf ums Überleben führen müssen, obwohl sie täglich von Bussen abgeholt und zur Schule gefahren werden, obwohl sie geborgen und beschützt werden von Eltern und Lehrern, die alle nur ihr Bestes wollen. Die Situation, die wir antreffen, scheint erst einmal günstig zu sein. Was gibt es für Probleme?

"Unser Leben wird bestimmt durch die Schule! Von 5:30 Uhr bis 16 Uhr sind wir mit Schule beschäftigt. Dann haben wir noch ca. 5 Stunden, um Freizeit zu erleben, danach rufen Eltern und das Bett. " – "Wer nach 22 Uhr ins Bett geht, kann nicht aufmerksam am Unterricht teilnehmen."

Eine Schülerin, 18 Jahre, sagt, was das für sie bedeutet:
"Ich lebe in einer ständig stressigen Situation, habe das Gefühl, keine Zeit für mich zu haben und noch weniger für meine zahlreichen Beziehungen, warte auf das Wochenende, wo ich abladen kann, womit ich in der Woche beladen wurde. Doch auch das Wochenende bringt nicht die ersehnte Entspannung, weil man zu viele Dinge auf einmal tun will. Außerdem ist das Wochenende auch nicht frei von Schule, es gibt vieles, das aufbereitet werden muß, weil man in der Woche Zeit vertan hat. Problematisch ist auch die Aufteilung, Freitag frei, Samstag Schule, Sonntag frei. Es gibt kein zusammenhängendes Wochenende, so wie wir es aus Deutschland gewöhnt sind; die Freizeit leidet darunter!"

Ich habe festgestellt, daß in den meisten Gesprächen unter Jugendlichen das Thema "Schule" dominiert. Das Bedürfnis "Luft abzulassen", mit "Leidensgenossen" zu reden, Aggressionen abzubauen steigert sich mit dem zum Schuljahresende hin wachsenden Notendruck. Außerdem wächst der Druck der Eltern und Lehrer, Konflikte entstehen, weil unterschiedliche Interessen aufeinander stoßen.

Bleibt neben der Schule noch die Freizeit. Das Freizeitangebot hier in Ägypten für Jugendliche an der DEO scheint von deutscher Inlandssicht erst einmal riesig groß. Klubs, Reitställe, Sinai, Tauchen, Surfen, Tennis, Golf, Schwimmen. Lebt man aber länger im Lande, so verlieren diese Angebote ihre Exotik und somit ihren Reiz. Der Ruf nach der Kneipe um die Ecke wird laut.

Ein Schüler, 19 Jahre, drückt dies so aus:
"Das, was wir wirklich nötig haben, ist ein Platz, ein Ort, wo wir hingehen können, einfach so, wissend, daß dort jemand ist, mit dem man reden kann, daß man bekannt ist, daß man immer andere trifft, ohne große Organisation. Eine Kneipe, ein Café, wo ich mich wohlfühlen kann, nicht das Wohnzimmer meiner Eltern, auch nicht das Zimmer eines Freundes, einen Raum, der uns gehört, wo wir unter uns sein können, wo wir uns außerhalb der Schule kennenlernen können. Wir trafen uns zwar öfters in einem ägyptischen Café, aber dies bedeutet dann immer, daß Frauen oder Mädchen ausgeschlossen sein müssen, weil dies kein Ort ist, wo Frauen sich aufzuhalten haben. Auch die sogenannten Fünf-Sterne-Hotels sind kein angemessener Ort für Jugendliche, die kein eigenes Einkommen haben."

Es ist schwierig, Jugendliche außerhalb der Schule zu treffen, da es keinen festen Ort gibt, wo sie sich regelmäßig treffen können. Der einmal in der Woche stattfindende Jugendtreff kann nur minimal das Bedürfnis nach Gemeinschaft stillen.

Ein anderes Problem, das sich vor mir aufgetan hat, ist die Sexualität, der natürliche Umgang mit ihr, Beziehungen zwischen jungen Männern und jungen Frauen. Allein, daß dieses Wort hier erwähnt wird, könnte bei manchen Lesern und Leserinnen Angst und Empörung bewirken. Eine Schülerin, ein Schüler nehmen Stellung:

"Vorweg, es geht uns hier nicht um Beischlaf. Wer Sexualität nur auf den Genitalbereich reduziert, beschränkt sich in seinen Gefühlen und Vorstellungen; Sexualität umfaßt den ganzen Körper. Sexualität ist Sprache, mit der wir kommunizieren können.
Die Situation hier in Ägypten ist anders. Wir haben das Gefühl, daß wir um 40 Jahre zurückgeworfen wurden, in eine Gesellschaft, die verklemmt ist, in der etwas nicht ausgedrückt werden darf, was fühlbar vorhanden ist. Dadurch bekommen wir ein schlechtes Gefühl, Frauen fühlen sich schmutzig und abgewertet, weil sie durch die Phantasie mißbraucht werden. Wir empfinden Dinge als verwerflich, die in der Bundesrepublik selbstverständlich sind. Die Natürlichkeit der Sexualität geht verloren. Wir lernen nicht mehr, vernünftig mit Sexualität umzugehen. Tauschen wir z.B. Zärtlichkeiten innerhalb der Schule aus, müssen wir damit rechnen, den Ruf der Schule in Gefahr zu bringen."

Weil Sexualität etwas ist, worüber man nicht redet, geschweige denn schreibt, alles, was unmoralisch sein könnte, zensiert wird, bleibt die Sexualität als etwas Verbotenes, Geheimnisvolles bestehen. Dadurch wird Sexualität überbewertet, wird zur Last, die das Denken von Jugendlichen bestimmt und sie schließlich nicht mehr "normal" handeln läßt.

Problematisch empfinden einige Schüler und Schülerinnen auch das hin- und hergerissen sein zwischen zwei Welten, zwei Kulturen, zwei Religionen und zwei Sitten.

Ein deutsch-ägyptischer Schüler, 18 Jahre, sagt folgendes:
"Ich weiß oftmals nicht, wo ich wirklich stehe. In Ägypten werde ich nicht als Ägypter anerkannt, in Deutschland werde ich immer als Ausländer angesehen. Ich fühle mich wie ein geteiltes Land. Dieser emotionale Zwist wird noch unterstrichen durch die unterschiedlichen sozialen Verhältnisse. Wenn ich mit Freunden ausgehe, kann ich oftmals nicht mithalten, weil ich finanziell schlechter dastehe. Aus diesem Grund verzichte ich öfters auf die Gemeinschaft, die mir eigentlich sehr wichtig ist."

Ein letztes Problem, das hier genannt werden soll, und das das Denken vieler Jugendlicher beschäftigt, sind die unterschiedlichen Rechte der beiden Volljährigkeiten. Ist ein Jugendlicher mit 18 Jahren in der Bundesrepublik volljährig und damit erwachsen, trifft dies für einen ägyptischen Jugendlichen erst mit 21 Jahren zu.

Eine Schülerin, 18 Jahre, bezieht Stellung:
"Dieses Problem manifestiert sich für mich vor allem in der Schule. Ich bin in einer deutschen Schule, die getragen wird von der Deutschen Evangelischen Kirche, eine Begegnungsschule, die Gast in Ägypten ist. D.h., daß sie sich dem Gastland an gewissen Stellen anpassen muß und dabei in einen deutsch-ägyptischen Konflikt gerät. Wir sind Opfer dieses Konfliktes, da die Schule oft zweckentfremdet wird, sprich: sie wird zum politischen Spielball, sie will ihr Ansehen in Ägypten wahren. Mein Gefühl ist, daß die Schule ihre Aufgabe, verantwortlich denkende und handelnde Menschen heranzuziehen, vergißt. Wir werden als unmündig hingestellt, dürfen, obwohl nach deutschem Recht erwachsen, also auch fähig, Politiker zu wählen, Kriegsdienst zu leisten und für begangene Fehler gesetzlich zur Verantwortung gezogen zu werden, nicht das Recht in Anspruch nehmen, uns selbst zu entschuldigen, jederzeit das Schulgelände verlassen zu können, und außerhalb des Schulgeländes zu rauchen. Man benimmt sich so, wie man behandelt wird."

Hin- und hergerissen zwischen zwei Welten, versuchen die Jugendlichen zu arrangieren. An vielen Stellen gelingt es, an anderen Stellen scheitern sie, wie auch die Erwachsenen. Probleme, die vorhanden sind, werden von manchen Erwachsenen belächelt. Aussagen wie, "wir hatten auch Probleme und sind groß geworden" oder "stellt euch nicht so an" nützen keinem Jugendlichen. So zu reden heißt, den Jugendlichen nicht ernst nehmen, sich über ihn zu erheben. Jugendliche spüren diese Arroganz und reagieren mit Aggression und Rebellion; die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Jugendlichen verstummt,

Am Leben des anderen teilnehmen, sich für die Belange und Sorgen der Jugend einzusetzen, sie ernst zu nehmen, dies sollte die Aufgabe von Pädagogen und Pädagoginnen sein, so daß der Dialog zwischen Alt und Jung nie abreißt. Miteinander leben, und nicht gegeneinander.

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Von Kairo nach Berlin – ein Umzug und seine Folgen
von Barbara Krafft

Papyrus-Logo Nr. 5—6/85, pp. 34—35

Als ich 1980 aus Kairo nach Berlin zurückkehrte, hatte mein Leben fünf Jahre lang hauptsächlich aus zwei Dingen bestanden: Schule und Familie. Ab und zu sah ich auch nachmittags bzw. abends Schulkameraden, meist aber nur dann, wenn eine Party gefeiert wurde. Denn ich wohnte in Mohandessin, fast alle anderen aber in Maadi, und meine arme Mutter konnte mich nicht dauernd herumkutschieren; alleine mit dem Taxi fahren jedoch durfte ich nicht.

In beiden Punkten, sowohl was Schule als auch was Freizeit betraf, änderte sich mit dem Umzug nach Deutschland sehr viel.

Zunächst zur Schule: von Kairo her war ich einen engen Klassenverband und viele Aktivitäten in der Schule außerhalb des Unterrichts (vom Theaterspielen über die Tanzstunde bis zur Sport-AG am Nachmittag) gewöhnt. Zudem kannte ich fast alle Lehrer privat, ihre Familie, ihr Haus und hatte deshalb ein ganz anderes Verhältnis zu ihnen, als es in Deutschland normalerweise möglich ist.

In Berlin platzte ich (nach der 11. Klasse in Kairo) völlig unvorbereitet in die reformierte Oberstufe hinein. Wie ich mich dort einfand, macht vielleicht am besten die Tatsache deutlich, daß ich schon ein Jahr nach dem Abitur zu keinem einzigen meiner knapp 100 Mit-Abiturienten mehr Kontakt hatte. Die reformierte Oberstufe teilt alle Schüler der 12. und 13. Klassen in Kurse ein, und die Schüler finden sich jede Stunde zu anderen Gruppen zusammen. Für jemanden, der einen festen Klassenverband gewöhnt ist und nicht durch eine sog. Übergangsphase an das Kurssystem herangeführt wurde, bedeutet das zunächst eine ungeheure Umstellung. Zudem macht es das Kennenlernen neuer Mitschüler schwer und damit auch das Eingewöhnen in Deutschland überhaupt, denn für Schüler ist die Schule nun mal ein maßgeblicher Teil ihres Lebens. Sicherlich lag es auch an mir, wenn ich schwer Anschluß fand, eines aber ist sicher: ich habe diese Erfahrung schon zweimal nach Auslandsaufenthalten gemacht und von vielen anderen Entsprechendes gehört. Gerade, daß man lange im Ausland war und in gewisser Weise einen weiteren Horizont und mehr Erfahrungen als Gleichaltrige in Deutschland hat, führt zu einer gewissen Isolation. Ein ganz bestimmter und nicht unwichtiger Teil von mir wird nie ganz verstanden. Die meisten reagieren mit Neid und Abwendung. Freunde findet man unter Älteren, da wird man eher verstanden.

So habe ich die Umstellung auf die Berliner Schule als negativ empfunden. Ausgesprochen positiv jedoch war die Veränderung, die sich im privaten Leben vollzog. War bis jetzt das Haus, die Familie die Hauptsache gelesen, das Gefühl, fest angebunden, nicht selbständig zu sein, so konnte ich jetzt endlich (das erste Mal mit 17 Jahren!) alleine für längere Zeit fortgehen. Ich weiß noch heute, was für ein Glücksgefühl in mir hochstieg, als ich mein Fahrrad bekam und meine erste Fahrt damit machte. Zwar wurde an der Schule außer zwei bis drei Sportgruppen nicht viel an Freizeitbeschäftigung angeboten, ich vermißte unsere großen, häufigen Kairoer Gartenféten, aber daß ich ins Kino, Theater, in die Disco oder einfach auch nur in die Kneipe gehen konnte, ohne meine Eltern darum bitten zu müssen, gefahren zu werden, wog unvergleichlich mehr.

Als letztes noch ein Wort zum Thema politische Information: Als wir in Kairo lebten, hatten wir nur einen kleinen Radioapparat und bekamen die "Egyptian Gazette" ins Haus (unregelmäßig). Deutsche Magazine gab es kaum, Geschichts- und Sozialkundeunterricht waren nicht auf aktuelle Tagespolitik ausgerichtet, auch nicht auf jüngste deutsche Geschichte. So lebten wir in Bezug auf politisches Wissen hinter dem Mond und kamen diesbezüglich mit einer Naivität nach Deutschland, über die viele erstaunt, einige sogar erschreckt waren. Politische Weltkunde aber (oder wie das entsprechend auch in anderen Bundesländern heißen mag) ist Prüfungsfach. Ich stieg mit ausgesprochenem Inselwissen ins Abitur ein. Bei mir ging es gut, das muß aber nicht immer so sein. Ich weiß nicht, ob sich diesbezüglich die Situation an der DEO geändert hat. Es würde dem Einstieg in das neue Fach dienen und nicht zuletzt die Distanz zu den neuen Schulkameraden verringern helfen, die zumeist politisch sehr interessiert, wenn nicht sogar engagiert sind.

Fazit: das Eingewöhnen in Deutschland kann zwar etwas schwierig sein, ein langjähriger Auslandsaufenthalt ist aber viel zu schön, als daß man das nicht in Kauf nehmen könnte!

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Als Fremder in Deutschland
von Mohamed Khalifa
in 4 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 3—4/92, pp. 85—86

Endlich hat es geklappt – ich habe ein Kurzstipendium für Deutschland bekommen, worauf ich seit drei Jahren gewartet habe.

Fast überall habe ich meinen Freunden erzählt, daß ich bald nach Deutschland fliege. Viele meinten, ich müßte meine Begeisterung von Deutschland und den Deutschen doch mal aufgeben – denn wer im Radio, Fernsehen und in den Zeitungen die neuesten Meldungen über die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland hört und liest, fragt sich: Was ist mit den Deutschen los?

Ein ägyptischer Freund, der vor kurzem aus Deutschland zurückkehrte, berichtete mir von seinen negativen Erfahrungen dort: fast überall sei er den Schlagwörtern "Ausländerstop", "Deutschland den Deutschen" usw. begegnet, worauf er sich fragte: "Wollen die Deutschen eine eiserne Mauer um ihr Land bauen?"

Dieser Freund hatte etwa zwei Monate in Deutschland verbracht, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern, was ihm bei seinem Beruf als Touristenführer von großem Nutzen ist. Er hatte die Reise selbst finanziert.

In dieser Zeit, so erzählte er, habe er die Ausländerfeindlichkeit, die Unfreundlichkeit und das Mißtrauen Ausländern gegenüber selbst zu spüren bekommen. Aus Angst, auf der Straße jederzeit überfallen werden zu können, habe er stets eine Waffe bei sich getragen. Eines Tages wurde er, gemeinsam mit zwei anderen Arbeitskollegen von mir, die sich als Stipendiaten für längere Zeit in Deutschland aufhalten, in einer U-Bahn-Station von Republikanern umkreist und mit Messern bedroht.

"Wir sind keine Ausländer in dem Sinne, wir sind Stipendiaten", so sagten die Freunde voller Angst, während der dritte zum Aufsichtsbeamten der Station gelaufen war, um diesen um Hilfe zu bitten. Der Beamte verweigerte seine Hilfe jedoch mit den Worten, daß dieser Vorfall nicht in seinen Aufgabenbereich falle, und er von dort aus leider nicht die Polizei benachrichtigen könne.

Auch andere Passanten, die am Gleis warteten, beobachteten das Geschehen, ohne einzugreifen, ja sogar, ohne merklich zu reagieren. Als die Republikaner überzeugt davon zu sein schienen, daß diese Ausländer keine Asylanten oder Gastarbeiter waren, von denen sie zu befürchten hatten, daß sie den Deutschen die Arbeitsplätze, Wohnungen und Studienplätze wegnehmen könnten, forderten sie von jedem der drei 10,- DM, um Bier kaufen zu können. Anschließend ließen sie die Ägypter frei.

Von diesem und vielen anderen ähnlichen Erlebnissen erzählte mir mein Freund nach seiner Rückkehr nach Ägypten.

Natürlich war ich schockiert über das, was er berichtete – nie hätte ich es für möglich gehalten, daß die Situation für die Ausländer in Deutschland so schlimm werden könnte. Ich dachte, so etwas kann doch in einem Land wie der Bundesrepublik nicht passieren – nein, der Freund mußte sich geirrt haben oder sehr übertreiben, sagte ich mir im Stillen. Dennoch kam ich nun mißtrauisch in Deutschland an, denn "Vorsicht ist besser als Nachsicht", sagt meine Mutter oft.

Sieht dieses Mal alles anders aus? Nein, alles ist, zumindest auf den ersten Blick, ganz "normal"; ich bin nur mit gewissen Vorurteilen hierhergekommen und muß versuchen, sie zu überwinden.

Es ist seltsam, ich fühle mich als Ausländer: das Gefühl hatte ich bisher nirgendwo und niemals zuvor gehabt.

Nein, nein, ich bin kein Ausländer, ich bin Stipendiat und bleibe höchstens ein paar Monate in der Bundesrepublik. Doch woher sollen die Deutschen das wissen! Ich sehe eben anders aus, habe eine andere Hautfarbe und schwarze Haare.

Auf den Straßen, in den Gesichtern der Menschen, an denen ich vorübergehe, lese ich in jedem Blick die Frage: "Was hast du hier zu suchen?" und höre das unausgesprochene Wort "Scheißausländer!" Mir scheint es, als würde ich von allen beobachtet, als betrachte man mein Aussehen, meine Kleidung und mein Verhalten abschätzig.

Ausländer her!
"Wir sind alle Planetarier" – Aufkleber gegen Ausländerhaß

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Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 9—10/92, pp. 38—41

Dies ist, wie ich schon erzählte, bereits meine fünfte Deutschlandreise, doch nie zuvor fühlte ich mich fremd hier und unerwünscht wie dieses Mal.

Meine Liebe zur deutschen Sprache und zu den Deutschen bzw. Deutschsprachigen ist vielen bekannt. Während meiner Studienzeit in Kairo habe ich eine "Studentengruppe" mit dem Namen "Freunde der deutschen Sprache" gegründet, später war ich eines der Hauptmitglieder des "Vereins der Touristenfreunde", wo ich (unentgeltlich) Deutsch für Araber und Arabisch für Deutsche unterrichtete. Zu unserer Arbeit gehörte auch die freiwillige und keinerlei Gegenleistung erwartende Hilfe für deutschsprachige Touristen auf der Straße, dem Bahnhof oder am Flughafen. (Siehe hierzu den Beitrag Gesellschaft der Touristenfreunde –Anm. KFN.)

Meine Zuneigung zu den Deutschen hat mich hoffen lassen, daß auch ich hier in Deutschland nichts zu befürchten hätte, und ich wollte mir durch die Ausländerfeindlichkeit meinen Aufenthalt nicht verderben lassen.

Eines Morgens ging ich in der Stadt spazieren, und alles schien mir ganz "normal", wie ich es von den früheren Aufenthalten kannte. Nur eines fiel mir auf und verwunderte mich: einige schwarze und dunkelhäutige Menschen wie ich grüßten mich auf der Straße, indem sie lächelten oder mit dem Kopf nickten. Ich habe natürlich den Gruß erwidert und war sehr froh, ab und zu solch freundlichen Leuten zu begegnen. Dennoch gab es mir zu denken, und ich fragte mich, warum diese Leute dies taten. Vielleicht, weil sie sich als Ausländer mit mir identisch fühlten? Oder vielleicht, weil wir ähnliche Erfahrungen hier gemacht haben, uns als unerwünschte Menschen in diesem Land fühlen? Und vielleicht versucht jeder, dem anderen durch dieses Lächeln ein bißchen Mut zu geben.

Es wundert mich selbst, wie sehr ich über diese kleine Begebenheit nachdenke. Ich beginne schon, alle Dinge zu analysieren, was eigentlich nicht meine Art ist. Haben mich die Deutschen schon mit ihrer Art des analytischen Denkens – die ich immer bei ihnen kritisiert habe – beeinflußt? Besonders das "Zerpflücken" von persönlichen und menschlichen Beziehungen störte mich oft. Ich erinnere mich dabei an eine meiner besten deutschen Freundinnen, die ich in Kairo kennenlernte. Sie war sehr nett und freundlich und hatte viel Verständnis für arabische Kultur bzw. für den "Egyptian way of life". Doch es gefiel mir nicht, daß sie all meine Verhaltensweisen immer kommentierte und analysierte, so daß ich manchmal das Gefühl hatte, daß sie mich für ihr Studium der Psychologie als Versuchskaninchen ansah.

Diese Art der psychologischen Betrachtungsweise hat mir bei den Deutschen nie gefallen und erscheint mir irgendwie unmenschlich.

Auf dem Spaziergang durch die Stadt kam ich an der Post vorbei; dort hörte ich zufällig, wie jemand auf Arabisch telefonierte. Ich wartete, bis er fertig war und sprach ihn einfach an:

"Kommst du auch aus Ägypten?"
"Ja, du auch?"
"Ja, ich bin neu hier, aber ich habe nicht vor, hier lange zu bleiben."
"Wie lange bist du hier in Deutschland?"
"Ziemlich lange."
"Bist du Asylant oder mit einer Deutschen verheiratet?"
"Nein, ich bin hier Stipendiat für zwei Jahre und fliege bald nach Hause. Ich habe ein Stipendium, um eine Doktorarbeit im Bereich der Naturwissenschaften zu schreiben."
"Na, und wie sind deine Deutschkenntnisse, mußt du die Arbeit auf Deutsch schreiben?"
"Nein, ich werde die Arbeit auf Englisch in Kairo abgeben, aber ich kann jetzt auch Deutsch, d.h. ich kann mich auf jeden Fall verständigen, aber mein Professor ist nicht mit mir zufrieden. Er meinte, ich müßte besser Deutsch können und die Arbeit auf Deutsch schreiben. Er hat mir empfohlen, nur deutsche Quellen zu lesen, obwohl er weiß, daß ich die nicht so gut verstehen kann."
"Vielleicht kann er nicht so gut Englisch?"
"Doch, er ist erst vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt, wo er fünf Vorträge auf Englisch gehalten hat."
"Es ist ein Problem, daß hier immer erwartet wird, daß die Ausländer deutsch können. Du hast sicher selbst gesehen, daß alle Filme synchronisiert sind, und in den Geschäften und auf der Straße wird man nur auf Deutsch angesprochen."

Daraufhin erzählte mir der Freund – ja "Freund", denn so schnell kann sich die Beziehung zu anderen Fremden entwickeln, besonders wenn sie aus demselben Land stammen – was einem Freund von ihm passiert war:

Sein Visum sei abgelaufen und er müßte zur Ausländerbehörde gehen, um seine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Er sei auch ein Stipendiat, und sein zweimonatiges Stipendium solle für drei weitere Monate verlängert werden. Mein neuer Freund fragte mich: Hast du Zeit, dann könnten wir ihn morgen begleiten, weil sein Deutsch nicht ausreicht, und vielleicht können wir ihm doch helfen.

Am nächsten Morgen sind wir zur Ausländerbehörde gefahren. Es ist ein riesiges Gebäude, und wir mußten ein paarmal fragen, wo man die Verlängerung bekommen kann. Endlich sind wir in einem großen Saal gelandet, der etwa 15 m lang und 4 m breit war.

Hier gibt es verschiedene Gesichter zu sehen. Es stinkt sehr nach Schweiß und anderen Gerüchen. Viele sind sogar mit Kindern da. Eine große Anzahl von Menschen – bestimmt über 50 – sind anwesend, einige sitzen auf Stühlen, einige stehen in einer Schlange, und andere sitzen auf der Erde. Die zehn Stühle, die sich im Saal befinden, reichen bei weitem nicht für alle.

Wir wußten nicht, an wen wir uns wenden sollten, aber unser Freund hatte einen Zettel mit Namen und Zimmernummer bei sich. Sein Betreuer habe mit den Leuten in diesem Büro vor kurzem telefoniert, und er solle sich an Frau X wenden. Wir haben das Zimmer leicht gefunden, und der Name der Frau stand auch an der Tür. Unser Freund hat geklopft und ist sofort hineingegangen.
Er wurde angeschrien: "Raus – raus!" – "Ja, aber bitte, ich bin von Prof. Y zu ihnen geschickt worden, um... " – "Ja, ich bin Frau X, aber warte bitte draußen."
Wir mußten vor dem Zimmer warten, aber da warteten auch noch andere, und wir wußten nicht, wer an der Reihe war.

Mit Händen und Füßen und ein bißchen Englisch und ein bißchen Deutsch haben wir uns mit den anderen Wartenden verständigt, und wir sollten uns ans Ende der Reihe stellen.

Endlich waren wir dran. Der Freund ging hinein, und ich begleitete ihn. Hier erwartete uns eine Enttäuschung, denn der Familienname meines Freundes fängt mit K an und bei der Frau X werden nur die Buchstaben A bis H bearbeitet, d.h. wir mußten uns in eine andere Reihe vor einem anderen Zimmer stellen. Es war schon 11.00 Uhr, doch jetzt kamen wir hinein. "Wo sind ihre Papiere?" fragte der nette Beamte.

Der Freund zeigte ihm zwei Briefe, einen vom DAAD, daß sein Stipendium verlängert worden sei und daß er sein Visum verlängert bekommen sollte, und noch einen Brief von seinem Betreuer an der Uni Münster.
"Nein das ist aber nicht alles", sagte der Beamte, "wo sind die Formulare und ihr Paßfoto?"
"Niemand hat uns davon erzählt, und das haben wir nirgendwo draußen gelesen", sagte ich.
"Ja, ja, nehmen Sie die Formulare hier, und füllen Sie sie bitte aus!"

Wir nahmen die Papiere und versuchten sie auszufüllen. Und hier sahen wir, daß alle sich gegenseitig befragten, was diese oder jene Frage bedeuten solle, und ob irgendeiner gut Deutsch könne. Die Papiere sind nur auf Deutsch geschrieben, so als ob es selbstverständlich wäre, daß all diese Ausländer die deutsche Sprache lesen und schreiben können.
Das hat uns irritiert, warum sollten die hier nicht Englisch oder Französisch können?
Bis wir wieder an die Reihe kamen, war es kurz nach 12.00 Uhr und es hieß, wir sollten morgen nochmals wiederkommen.

Am nächsten Tag ging der Freund dorthin und dachte, jetzt müsse alles gut laufen, denn er hatte ja jetzt alle Papiere bei sich. Er wurde jedoch enttäuscht, als der Beamte ihn fragte: "Wo ist Ihr Mietvertrag?"
"Das haben Sie mir aber gestern nicht gesagt; außerdem bin ich jetzt bei einem Freund in Berlin untergebracht, und hier in Münster wohne ich bei einem anderen Freund, den ich aus Kairo kenne. Er nimmt dafür von mir kein Geld!"
"Das gibt es nicht! Es tut mir leid. Sie müssen uns einen Mietvertrag überreichen, sonst...!"
"Na gut, ich werde es versuchen."

Sein Freund, bei dem er wohnte, hat den Beamten angerufen und ihm die Geschichte erzählt und ihm auch erklärt, daß er selber Untermieter sei und keinen Mietvertrag ausschreiben könne. Auf jeden Fall und nach vielem Hin und Her ist mein ägyptischer Freund mit seinem deutschen Freund zum Hausbesitzer gefahren, und beide haben ihn überzeugt, daß er einen Mietvertrag auf das Papier für den Ägypter schreiben soll.

Am nächsten Tag ging der Freund mit den Papieren und dem Mietvertrag zu dem Beamten. Er wurde gefragt, wo er in den letzten zwei Monaten gewohnt habe? "In einem Studentenheim", antwortete er.
"Ja gut, davon brauchen wir von Ihnen ein Augzugsformular."

Er ist schnell zu dem Wohnheim gelaufen, um dieses Auszugsformular zu besorgen, dort aber mußte er erfahren, daß es nicht möglich ist, die Heimleiterin außerhalb der Sprechstundenzeiten zu sehen, d.h. er mußte noch zwei Tage warten. Drei Tage später ging er dann wieder zu dem Beamten mit den Papieren, dem Mietvertrag und dem Auszugsformular.
"Gut, sagte der Beamte, jetzt kriegen Sie Ihr Visum verlängert!"

Und er ging zu einer Schublade, schlug dort ein Buch auf, und plötzlich sah er zu ihm herüber, als ob etwas ganz Schlimmes geschehen wäre und sagte: "Sie sind gar nicht bei der Ausländerbehörde registriert."
"Ausländerbehörde? Nein, wozu? Ich bin zum dritten Mal hier in Deutschland, und so etwas habe ich nie gemacht. Ausländerbehörde? Was ist das? Wo ist das?"
"Keine Sorge, die sind im Nebengebäude, gehen Sie dorthin und melden Sie sich. Da werden Sie einen Zettel bekommen. Bringen Sie ihn her zu uns, und Sie bekommen die Verlängerung Ihres Visums...!"

So einfach, wie der Freund es sich vorstellte, war es nicht; abgesehen davon, daß er jedesmal in einer langen Reihe anstehen mußte, war er auch noch unter Zeitdruck, denn sein Visum war abgelaufen.

Er mußte ja auch für seine wissenschaftliche Arbeit etwas tun. Er hätte nie gedacht, daß er so viel Zeit opfern müßte, vor allem, weil er selbst wußte, daß die Visumverlängerung im Al-Mugammaa-Gebäude in Kairo nicht so lange dauert.

Er ging zur Ausländerbehörde, stellte sich in die Reihe. Auch hier wurde er nach allen Papieren gefragt, Mietvertrag, Paßfotos, seinem Paß. Alles war in Ordnung.
"Es fehlt aber das Einzugsformular!", sagte die Beamtin ganz freundlich...
Hier wollte mein Freund laut schreien!!! Warum erklärt Ihr uns das nicht alles im Voraus! Wieso und wozu... Warum macht Ihr alles so kompliziert? Was für ein Saftladen ist das hier?!

Vor diesem freundlichen Lächeln der Beamtin war er aber doch schwach, denn sie konnte doch nichts dafür.

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Teil 3 Papyrus-Logo Nr. 11—12/92, pp. 90—92

Kurz vor meinem Geburtstag beschloß ich, eine Reise durch Deutschland zu machen.

Da ich vom Süden begeistert bin, fuhr ich zuerst nach München. Dort spricht man 'bayrisch', und ich konnte natürlich nicht alles verstehen; nur mit denjenigen, die sich bemüht haben, mit mir hochdeutsch zu sprechen, war die Verständigung möglich. Allerdings bin ich mit den älteren Leuten gut zurechtgekommen. Mir ist aufgefallen, daß viele der Bayern sehr stolz darauf sind, echte Bayern zu sein. Sie tragen zu speziellen Gelegenheiten ihre traditionelle Tracht. Das hat mich an unsere Oberägypter erinnert, die des Klimas wegen leichte Kleidung tragen, die vor der Sonnenglut schützen soll und die bei der Arbeit nicht hinderlich werden darf. Bei uns in Ägypten erkennt man einen Oberägypter (Saidi) an der Galabija, in Deutschland einen Bayern u.U. an der Lederhose.

In Deutschland sind die Bayern oft Zielscheibe des Humors, wie auch hier in Ägypten gern über die Saidis gelacht wird.

Glücklicherweise habe ich das Oktoberfest nicht verpaßt. Es war ein schönes Erlebnis, denn es wurde auf allen Straßen gesungen und getanzt, und man konnte sich dabei vor allem frei fühlen. Die Wärme und die Aufgeschlossenheit der Leute dort haben dazu beigetragen, daß ich diese Atmosphäre sehr genossen habe. Allerdings erschien es mir ein bißchen komisch, in welchem Maße sich die Leute betrunken haben. Wie kann das Bier so wichtig sein?

Als ich mir ein "bleifreies" Bier bestellte, fragte mich mein Tischnachbar: "Warum trinkst Du keinen Alkohol? Es ist doch gesund!"

Natürlich wollte ich ihm nicht den Spaß verderben und mit ihm über religiöse Gründe diskutieren. Es reichte ihm aus, daß ich antwortete: "Ich bin krank."

Es ist schon verwunderlich, denn nach all den Erfahrungen, die ich in Deutschland gemacht habe, haben mich noch immer viele gefragt: "Warum ißt Du kein Schweinefleisch? Warum trinkst Du keinen Alkohol? Warum tragen die Frauen bei Euch einen Schleier? Warum...? Warum...? Warum...?" Das hat mich empfindlich gemacht, und ich fühlte mich angegriffen oder in eine Situation gedrängt, in der ich mich verteidigen mußte für das, was ich bin. Ich habe dabei das Gefühl gehabt, daß manchmal mit zuviel europäischem Selbstverständnis der Orient betrachtet wird. Als Ratschlag fällt mir hierzu ein Vers aus Hermann Hesse's "Morgenlandfahrt" ein: "Wer weit gereist, wird oftmals Dinge schauen, sehr fern von dem, was er für Wahrheit hält. Erzählt er's dann in seiner Heimat denen, so wird ihm oft als Lügner mitgespielt. Denn das versteckte Volk will ihm nicht trauen, wenn es nicht sieht und klar und deutlich fühlt. Die Unerfahrenheit, ich kann's mir denken, wird meinem Sange wenig Glauben schenken.";

Es ist offensichtlich, daß ein sehr großer Unterschied zwischen Deutschland und Ägypten besteht. Die hiesigen Sitten und Gebräuche sind vollkommen anders, auch die Art der Erziehung ist verschieden. Man sollte daher keine Vergleiche anstellen. Zum anderen hat es mich aber auch gestört, als ich hier in Ägypten viele Fragen gehört habe wie z.B.:

"Stimmt es, daß die Leute in Deutschland miteinander auf der Straße und im Freien schlafen oder daß die Frauen dort mit jedem ins Bett gehen oder daß die Kinder keine richtige Erziehung genießen oder daß die Deutschen sich zu Hause so hochnäsig benehmen, oder daß sie nur deutsch sprechen, so daß man, wenn man als Ausländer etwas fragt, keine Antwort bekommt?" etc.
Leuten, die solche Fragen stellen, sollte man jedoch nicht böse sein, sie waren selber noch nie im Ausland, und ihre gesamte Vorstellung von Europa haben sie aus amerikanischen und europäischen Filmen, die hier gezeigt werden, und die ihre Phantasie beflügeln. Häufig werden auch eigene negative Erfahrungen im Ausland hier weitererzählt. Solchen Dingen Glauben zu schenken heißt, sie zu verallgemeinern.

Trotz vieler Versuche seitens des Bildungswesens, die Leute hier zu kultivieren, finde ich, daß es immer noch zu wenig ist. Die Menschen hier haben kaum eine Ahnung über das Leben in Deutschland bzw. in Europa, und meiner Meinung nach gibt es auch viele Deutsche bzw. Europäer, die auch keine große Ahnung von Ägypten haben, zurückzuführen auf das mangelnde Informationsbedürfnis der Leute. Hier wie dort fehlt es an guten Berichten seitens der Medien, das Informationsbedürfnis der Menschen ist gering.

Ich kann es nicht vergessen, daß mich jemand in Deutschland fragte, ob wir in Ägypten Farbfernseher haben oder ob man mit dem Esel oder Kamel zur Arbeit reitet. Sehr interessant waren auch die Fragen: "Wieviel Geld braucht man, um eine Frau vom Frauenmarkt zu kaufen?" "Warum schließen die moslemischen Männer ihre Häuser ab und sperren ihre Ehefrauen darin ein, solange sie selbst außerhalb des Hauses sind?" Ich denke, man müßte auf diesem Gebiet noch vieles tun, damit mehr Völkerverständigung herrscht.

Nachdem ich ein paar schöne Tage in München verbracht hatte, bin ich nach Bonn weitergefahren. Hier wirkten die Menschen neutral, liberal eingestellt, und jeder ging gezielt seines Weges, allerdings gab es auch überall ernste Gesichter. Mich hat es gewundert, daß dieses "Dorf" die Hauptstadt Deutschlands ist. Außer einem Spaziergang am Rhein entlang bietet die Stadt kaum etwas. Ein paar Kilometer weiter, in Köln, ist das Leben anders. Hier kann man das Nachtleben genießen, und das kulturelle Angebot der Stadt ist immens: der Dom, das römisch-germanische Museum, verschiedene Kunstmuseen und eine große Einkaufszone locken Jahr für Jahr viele Reisende an.

Die schönste und faszinierendste Stadt in Deutschland ist für mich Berlin. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, wie auch schon vorher, ist Berlin eine multikulturelle Stadt, in der man vieles erleben kann, Gutes und Schlechtes. Diese Stadt mit ihrem Nachtleben erinnert mich an Kairo, vor 3.00 Uhr morgens bin ich nie nach Hause gekommen, weil immer überall was los ist, es wird nie langweilig. Durch die Motivierung meiner Freunde dort habe ich es gewagt, viele Dinge zu unternehmen, die ich sonst allein nicht getan hätte. Ich habe an Kongressen teilgenommen und mir verschiedene orientalische Ausstellungen angeschaut und mit den Leuten darüber diskutiert. Aber ich habe auch durch die Augen eines Oberägypters die große weite Welt bestaunt.

In Berlin gibt es Frauen, die nachts wenig bekleidet wartend auf der Straße stehen und immer so freundlich sind. Zuerst dachte ich, daß sie auf den Bus oder ein anderes öffentliches Verkehrsmittel warten, als ich aber eine Freundin darum bat, in ihrem Auto eine dieser armen Frauen mitzunehmen, damit sie nicht so lange in der Kälte stehen muß, hat mich meine Freundin aufgeklärt.

Als ich für die Freundin ein Geschenk kaufen wollte, bin ich in ein Geschäft gegangen, wo es allerlei seltsame Geräte gab, von denen ich nicht wußte, was man damit anfangen kann. Als ich dieses Geschäft verwirrt verließ und noch einmal das Schild über dem Eingang betrachtete, fiel mir auf, daß dieses Geschäft kein gewöhnliches Kaufhaus war...

Am selben Abend ging ich mit Freunden an diesem Geschäft vorbei und erzählte ihnen diese Geschichte. Sie haben sich totgelacht!

Aus der Erfahrung eines ägyptischen Freundes von mir kann ich berichten, daß sich auch Sprachprobleme zu kleinen Katastrophen auswachsen können, z.B. wenn man statt Corned Beef Katzenfutter oder statt Waschpulver Mehl kauft.

Ich war überhaupt sehr erstaunt, wieviel Geld die Deutschen für die Ernährung und Pflege ihrer Haustiere investieren, so daß ich mir oft gewünscht habe, eine deutsche Katze zu sein.

Als ich eines Tages zum Friseur gehen wollte, bin ich in einen entsprechenden Laden gegangen, um den Preis für Haareschneiden zu erfahren und um zu schauen, wie man in Deutschland Haare schneidet. Im Laden traf ich einen Mann mit Hund an. Dann kam der Friseur hinzu und fragte mich, wo denn mein Haustier sei. Dabei stellte ich fest, daß ich bei einem Hundefriseur gelandet war. Natürlich würde mir hier keiner glauben, daß es in Deutschland Hundefriseure gibt.

Glücklicherweise habe ich in Berlin nicht das erlebt, was andere Ausländer an Diskriminierung erfahren haben und der sie gerade jetzt in verschärftem Maße ausgesetzt sind.

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Teil 4 Papyrus-Logo Nr. 1—2/94, pp. 86—87

Es ist sicherlich nicht so einfach, wenn verschiedenartige Kulturen aufeinandertreffen. Gegenseitiges Verständnis muß erst gelernt werden. Ich will nicht bewerten oder kritisieren, nur eine kleine Geschichte am Beispiel eines Oberägypters – nennen wir ihn Ali – erzählen.

Ali kannte nur sein Dorf und die Provinzuniversität, als er nach Deutschland geschickt wurde. Die Art und Weise des Verhaltens der Europäer mußte seinen naiven Dorf-Augen sehr exotisch vorkommen. Besonders das Thema "Frauen", die unser Freund bisher als schönes, liebes und sehr geheimnisvolles Element seines Lebens betrachtet hatte.

Jeder von uns hat seine eigenen positiven oder negativen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht schon gemacht oder hat sie noch vor sich. Ali hatte von Freunden gehört. Was ihm in Deutschland begegnete, war damit überhaupt nicht zu vergleichen; denn zwischen theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung liegen Welten. Genauso muß es einem Touristen ergehen, der viele Bücher über Ägypten gelesen hat, sich gut informiert glaubt, und dann feststellen muß, daß doch vieles anders ist.

Noch ganz neu in dieser fremden Welt saß er einmal in einem Café, ganz in der Ecke. Von diesem Platz aus sah er auf ein Pärchen. Die Frau war Deutsche, ihr Begleiter ein Afrikaner. Sie streichelte ihren Begleiter fast von Kopf bis Fuß. "Mein Gott! Wenn jetzt jemand kommt oder reagiert!! Oh, oweh, oweh, sie küßt ihn jetzt auch noch! Wäre einer meiner strenggläubigen Freunde hier, der hätte jetzt 'Haram, Haram' (verboten, verboten) gerufen, vielleicht sogar einen Herzinfarkt bekommen." Gut, daß Ali so weit weg saß, sonst hätte er sich geschämt, die beiden immer weiter anzustarren. Aber er konnte nicht wegsehen. An einem anderen Tisch saßen zwei junge Mädchen, die sich offenbar trefflich amüsierten. Mal warfen sie einen Blick zu den beiden, mal einen auf Ali, der starrte und starrte. Sie flüsterten miteinander und lachten. Galt das ihm oder dem Pärchen? Ali wußte es nicht. Vielleicht war es seine Ähnlichkeit mit dem jungen Mann dort.

Die Frau war jetzt aktiver geworden, was ihr Freund mit großer Vorsicht genoß. Er war wohl auch in die Frau verliebt, konnte es aber als Orientale nicht zeigen. Sicher hatte er Hemmungen, seinerseits seine Freundin zu streicheln oder zu küssen. Oder hatte er Angst? Konnte es sein, daß er die ganze Zeit an die Sittenpolizei dachte? Er saß da, so scheu wie ein ägyptisches Mädchen, das zum ersten Mal mit seinem Freund die "Bühne der Öffentlichkeit" betritt, und sich bei jeder Berührung oder jedem Kuß heimlich umsieht, ob sie wohl jemand dabei beobachtet.

Der Arme! War ihm denn nicht klar, daß er sich nicht in Kairo, in einer etwas dunkleren Gegend befand, wo er die Hand seiner Freundin fest drückt und das Mädchen heimlich küßt? Nein, anscheinend dachte er die ganze Zeit daran, wie die romantische Atmosphäre zerstört werden könnte, wenn plötzlich die Sittenpolizei die beiden erwischte. Er malte sich vielleicht aus, wie die Personalausweise eingesammelt würden. Katastrophal würde es sein, wenn sie ihre Ausweise nicht dabei hätten. Dann wären beide auf frischer Tat ertappt und einer strengen Befragung ausgesetzt. Vielleicht könnte er sich retten, wenn er die Frau wütend beschimpfen und ihr einen Vortrag über Sitte und Moral halten würde. Vielleicht würden sie dann freigelassen... Was aber, wenn der Polizist herausfinden sollte, daß sich die beiden nur oberflächlich kennen, daß sie zum Beispiel nicht weiß, wie seine Mutter heißt oder er keine Ahnung hat, wo sie zuhause ist?? Dann würde es schlimm aussehen! All das ging Ali im Kopf herum, als er das Pärchen im Café beobachtete, und er konnte mit dem armen dunkelhäutigen Mann nur Mitleid empfinden ....

Was Ali wohl jetzt, nach fast zwei Jahren Deutschland, empfinden würde?

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